Literatur

Buchvorstellung der Woche

Adam Haslett • Stellt euch vor, ich bin fort

Rowohlt • 24. Januar

Adam Haslett Stellt Euch vor, ich bin fort Adam Haslett erzählt in seinem hochgelobten Roman „Stellt Euch vor, ich bin fort“ von der Verletzlichkeit des Lebens.

Die Depression ist in den Industriestaaten längst eine Volkskrankheit. In Deutschland erkranken jährlich bis zu fünf Millionen Menschen, in den USA hat etwa jeder fünfte Bürger psychische Probleme. Was liegt also näher, als einen Roman über den Schmerz am Dasein in der Gegenwart zu schreiben, über die Seelennöte in der Wohlstandsgesellschaft, den Niedergang der traditionellen Industrie, das Abgleiten in eine prekäre Existenz und das erdrückende Gefühl, den Anschluss zu verlieren? Wahrscheinlich wenig, und doch hat sich Adam Haslett anders entschieden. Er interessiert sich so gar nicht für die Umstände, die die Depression zu einem Massenphänomen gemacht haben, sondern dafür, was diese Krankheit in einer Familie anstellt. In seinem zweiten Roman erzählt er die Geschichte einer mittelamerikanischen Kleinfamilie, in deren Mitte das Ungeheuer der psychischen Erkrankung sein Unwesen treibt. „Sein Geist schließt sich ab und fällt in eine Art Winterschlaf.“ Mit diesen Worten wird Margaret in einer Klinik der Zustand von John beschrieben, noch bevor sie heiraten und drei Kinder bekommen werden. Die Handlung befindet sich zu dem Zeitpunkt noch irgendwo im London der Sechzigerjahre, was vielleicht die unbeholfene Beschreibung der Erkrankung erklärt. Einige Jahre später, kurz bevor sich John das Leben nimmt, beschreibt der Familienvater seinen Zustand viel greifbarer. Auch wenn er während seiner depressiven Schübe beständig ins Schweigen verfalle, raube ihm das „Ungeheuer“ nicht die Worte. Vielmehr seien sie seine Komplizen, „eine Armee aus winzigen, unsichtbaren Toten, die ihre winzigen, flirrenden Sicheln schwingen und auf das Fleisch des Geistes einhacken“. Mit jedem Schlag gewinnen sie an Kraft und Schärfe und wiederholen die Selbstvorwürfe. „Es gibt keine tiefere Erkenntnis. Es hört nur niemals auf.“ In Folge geht es um die Kinder von John und Margaret, die den Verlust des Vaters unterschiedlich verarbeiten. Celia und Alec, die ungleichen Zwillinge, hadern zwar unaufhörlich mit sich und dem Leben, gehen darin aber nicht unter, während in ihrem großen Bruder Michael der Vater samt Ungeheuer weiterlebt. Haslett, der mit diesem Roman für den Pulitzer-Preis und den National Book Award nominiert war, weiß, wovon er schreibt. Sein Vater nahm sich das Leben, als er 14 Jahre alt war. Seither geht es auch für ihn darum, einen Umgang mit dem Verlust zu finden. Diese Erfahrung ist Ausgangspunkt seines Interesses für versehrte Charaktere. Und weil er weiß, dass es kein richtig und falsch im Umgang mit dem Tod gibt, lässt er ihnen ihre eigene Stimme. Aus den unterschiedlichen Perspektiven setzt er souverän die aufwühlende Geschichte einer amerikanischen Mittelstandsfamilie zusammen, die sich von den frühen Sechzigern bis in die Gegenwart erstreckt. „Stellt Euch vor, ich bin fort“ ist ein Klagelied über die Unwiederbringlichkeit der Zeit und das Protokoll eines permanenten Überlebenskampfes. Vor allem aber ist dieser umwerfende Roman eine unvergessliche Ode an die Kraft der Liebe und das Leben, in dem es darum geht, mehr zu sein „als bloße Funktionen eines Verlustes“.

Thomas Hummitzsch


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