Literatur

Buch der Woche

Thomas Reverdy - Es war einmal eine Stadt

Berlin Verlag · 2. Oktober

Reverdy Die Verwandlung der Auto-Metropole Detroit in eine bankrotte Ruinenstadt nimmt biblische Proportionen an. Wer nicht dort leben muss, kann eine seltsame Faszination verspüren.

Im Zweiten Weltkrieg wurden die Produktionsbänder von Detroit zum „Arsenal der Demokratie“ geadelt, und die zuversichtlich rollende Blechlawine in den Jahren danach machte die Stadt zum Siegessymbol des American Way of Life. Selbst ein ungelernter Arbeiter konnte es hier zu bescheidenem Wohlstand samt ahorngesäumtem Eigenheim und brandneuem Straßenkreuzer bringen, bevor der hausgemachte Abstieg begann. Fünf mitten durch das Stadtzentrum geschlagene Highways zerschnitten die Wohnquartiere der schwarzen Fabrikarbeiter und verführten ihre weißen Kollegen zur Flucht in die Vorstädte. Bei den Rassenunruhen von 1967 gingen ganze Viertel in Flammen auf, es gab 43 Tote, 1.200 Verletzte und einen neuen Kathryn-Bigelow-Film zum Thema („Detroit“). „Die, die blieben, weil sie nicht ausreichend dafür gerüstet waren zu gehen, waren auch nicht ausreichend dafür gerüstet zu bleiben“, merkt Thomas Reverdy in „Es war einmal eine Stadt“ lakonisch an. In der Tat: Als sich die Automobilhersteller im Gefolge der Ölkrise ein paar Jahre später fast komplett aus der „Motor City“ zurückzogen, führte das zu einer beispiellosen Abwärtsspirale von Arbeitslosigkeit, Drogenepidemie und Gewalt. Fast 30 Jahre lang konnte Detroit den zweifelhaften Titel der Mordhauptstadt des Landes verteidigen, samt dem dazu passenden apokalyptischen Flair. Der Tiefpunkt war im Bankrottjahr 2013 erreicht: 60% der Bevölkerung und 40% der Straßenbeleuchtung waren verschwunden, Metalldiebe hatten Stromkabel, Schienen, Kanaldeckel und Gullys im großen Stil gestohlen, und trotz grassierender Brandstiftung rückte die Feuerwehr nicht mehr aus, seit die Löscheinsätze teurer geworden waren als die brennenden Häuser. „Es war wie ein Weltuntergang in Zeitlupe“, schreibt Thomas Reverdy. „Die Landschaft erinnerte an Katastrophen- oder Sciencefiction-Filme, man fühlte sich wie in einem Albtraum. Hier bot sich die normalerweise unvorstellbare, verführerische Gelegenheit, die Ruinen der eigenen Kultur zu besichtigen. Die Überreste einer Zivilisation.“ Dem verführerischen Aspekt der havarierten Stadt kann sich auch der französische Autor nicht entziehen. Drei Menschen entlässt er in die urbane Prärie, die sich Hunderter ehemaliger Häuserblocks in Detroit bemächtigt hat: einen alten Streifenpolizisten, einen jungen Ausreißer und einen Automobildesigner, dessen Mutterkonzern ihn mit dem Himmelfahrtskommando betraut hat, vor Ort den Aufbau einer neuen Fertigungsanlage ins Auge zu fassen. Es sind Charaktere, die sich mitsamt ihrer Ambitionen vor einer Kulisse verlieren, die wiederum die eigentliche Hauptfigur dieses essayhaften Romans abgibt und als Fanal am kapitalistischen Horizont droht. Detroit als Regel statt als Ausnahme. „Man gewinnt hier den Eindruck, dass das, was passiert, eine verstörende Vision ist, ein Bild der Zukunft“, schreibt Reverdy. Die Autostadt wird womöglich nicht der letzte Ort bleiben, aus dem sich die Arbeitsplätze wie wir sie kennen zurückziehen: „Die Welt nivelliert sich gerade nach unten, wie wenn man eine Fläche planiert, einen Baugrund.“

Markus Hockenbrink (Foto: David Ignaszewski)


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