Literatur

Buch der Woche

Jess Kidd - Der Freund der Toten

Dumont · 18. Mai

Was geschah mit Orla Sweeney? 26 Jahre nach ihrem ungeklärten Verschwinden bohrt ihr Sohn nach. Und bekommt Hilfe aus dem Jenseits.

April 1976: Mulderrig ist ein verschlafenes irisches Nest im County Mayo, ein „freundliches Fleckchen Erde, entspannt in der Sonne ausgestreckt. Scheinbar harmlos.“ Und reif, von Hippie Mahony aufgemischt zu werden. Seine Mutter, Orla Sweeney, „die Schande von Mulderrig“, war noch eine Teenager-Göre, als sie ihn 1950 zur Welt brachte. Gerade hat Mahony erfahren, dass sie ihn damals nicht aus fehlender Mutterliebe im Waisenhaus ablud. Nein, man hat sie ihm weggenommen – aber was ist mit ihr geschehen? Schon der Prolog verrät es: Sie wurde brutal ermordet, vor seinen Augen. So weit – so konventionell. Routinierte Leser stellen sich auf einen Thriller der härteren Gangart ein. Aber weit gefehlt: Jess Kidd gehört zu den talentierten, unbekümmerten Ausnahmeerscheinungen, die in schöner Unregelmäßigkeit den Buchmarkt erobern, ohne sich um Genre-Schubladen zu scheren. Und so registriert der Leser staunend die erste tote Frau, die ihren Kopf durch eine Wand steckt, dann einen tödlich verletzten Collie und bald darauf ein Mädchen mit fehlendem Hinterkopf, die beide fidel herumlaufen. Nur Mahony kann sie sehen – „The Sixth Sense“ lässt grüßen – und auch all die anderen Leichen, die hübsch verquast ihren Gewohnheiten nachgehen und Mahony bei seinen Nachforschungen mit subtilen Hinweisen unter die Arme greifen. Zum Glück, denn außer Mrs Cauley, einer bettlägerigen alten Schauspielerin, rückt in Mulderrig niemand so recht mit Sprache heraus. Jeder hier erkennt in seinen hübschen Gesichtszügen die seiner Mutter Orla wieder – verhasst bei den Ehefrauen, feuchter Jugendtraum ihrer Ehemänner. Und schließlich bedarf auch die Frage nach Mahonys Vater noch der Klärung ... Solch ein kreischbunter Mix aus Mystery, Spukstory, Krimi, Familiendrama und Liebesgeschichte ist schon ein starkes Stück, das sich die 44-jährige Autorin leistet. Dass es ihr mit solcher Bravour gelingt, ist ihrem kunstvollen Magischen Realismus, ihrer virtuosen, zugleich verschwiegenen Erzählstimme zu verdanken, die dem Leser keine fertigen Antworten serviert, nicht erklärt, wenig Hinweise streut, und stattdessen Fantasie gestattet. Kidd lässt die Dinge einfach passieren, bisweilen in maßlosen, übersinnlichen Dimensionen – so ist er, der Magische Realismus, so funktioniert er. Die tieferen Wahrheiten liegen unter der offensichtlichen Oberfläche, bereit, gefunden zu werden, wenn man die Zeichen zu deuten vermag.
Hendrik Heisterberg

Unser Fazit: Fantasievoll, mutig, witzig, unterhaltsam, einfach ganz anders als der Rest: Hier geht ein heller Stern auf, der noch von sich reden machen wird. Jess Kidds Ideenreichtum, ihre Sprache und ihr Erzähltalent werden uns noch viel großartige Literatur bescheren. Zwei weitere Manuskripte sollen bereits fertig in der Schublade liegen.

Hendrik Heisterberg