Literatur

Buch der Woche

13.06. | Robert Seethaler • Das Feld

Was bleibt?

Dass wir sterben, ist gewiss. Doch was, wenn wir nach dem Tod nochmal zurückblicken? Robert Seethalers neuer Roman ist ein Gedankenexperiment mit literarischem Zauber.

Die durchschnittliche Lebenserwartung der Deutschen steigt. Bei neugeborenen Jungen liegt sie momentan bei 78 Jahren und vier Monaten, bei neugeborenen Mädchen beträgt sie 83 Jahre und zwei Monate. So lauten die Berechnungen des Statistischen Bundesamts. Nackte Zahlen – und eine Gewissheit: der Tod wird kommen, früher oder eben später. Die Endlichkeit des Daseins gehört zu den unumstößlichen Gesetzen. Unsterblichkeit ist nicht drin, höchstens in Romanen wie in Simone de Beauvoirs „Alle Menschen sind sterblich“, der aber nicht schwärmerisch in Utopien abgleitet, sondern trösten will. Denn der ewig dahinlebende Protagonist langweilt sich unermesslich, da sich alles wiederholt, und muss erkennen, dass die Sterblichen ihr Leben gerade deshalb spüren, weil sie sich ihres Todes bewusst sind. „Der Tod hält mich wach“, formulierte es einst der Aktionskünstler Joseph Beuys. Was nun, wenn die Toten einen immerzu wach halten? Nein, es geht nicht um Zombiefilme, nicht um Tischrücken, nicht um all diesen Kram, sondern um die, die im neuen Roman von Robert Seethaler zu Wort kommen - und das eben sind Verstorbene. Sie liegen, wo Tote nun mal liegen, auf einem Friedhof, den die Einheimischen schlicht „Feld“ nennen. Ein „nutzloser Flecken“, einst im Besitz eines Landwirts: „Wenn er schon fürs Vieh nicht taugte, war er doch für die Toten genug“. Kaum jemand kommt hierher, bis auf einen Mann. Er, der die Umgebung nur noch verschwommen sieht, sitzt auf einer Bank und denkt über die nach, die hier liegen, manche kennt er nur flüchtig. Und er versucht, ihnen zuzuhören. „Er malte sich aus, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden“, schreibt Seethaler. „Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte.“ Was bleibt, was hinterlassen wir? Für manche ist die Frage Antrieb, andere verdrängen sie lieber. Der Roman gibt Gelegenheit, ihr nachzuspüren. Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, ist ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane „Der Trafikant“ und „Ein ganzes Leben“ wurden zu Publikumserfolgen. In „Das Feld“ verwebt und verdichtet er die Lebensläufe der sprechenden Toten, die alle aus derselben Kleinstadt stammen. Sie erzählen aus der Ich-Perspektive, jeder mit seinem ganz eigenen Schicksal und doch sind sie, mal mehr, mal weniger, miteinander verbunden. Eine Protagonistin hatte 67 Männer, nur einen von ihnen hat sie geliebt. Einer war vernünftig genug, sich seine Träume nicht zu erfüllen. Und einer dachte: Man müsste mal raus hier. Doch dann blieb er. Seethaler schreibt in einer Schnörkellosigkeit, die fast so wirkt, als hätte er seine Zeilen nebenbei notiert, doch offenbart er darin, wie sorgsam er beobachten kann und dass er es versteht, Sprache zu komponieren, in der lyrische Kraft liegt. Was wir von uns wissen und was über andere, ist nicht einfach zu fassen. Der Schriftsteller versucht es erst gar nicht, sondern tastet sich gleich des Friedhofsbeobachters auf seiner Bank durch das Verschwommene.

Sylvie-Sophie Schindler