Literatur

31.03. | Buch der Woche

Jenny Odell • Nichts tun

C.H. Beck

Kennen Sie Jenny Odell? Nein? Das ist kein Wunder, denn Odell ist „nie glücklich gewesen mit diesem ‚Selbst‘ in Selbstdarstellung“, sagte sie 2019 auf dem XOXO Festival in Portland. „Damit kann ich mich einfach nicht identifizieren, und in diesem Sinne ist auch nicht das Buch entstanden.“ Das Buch, von dem sie spricht, heißt „Nichts tun – Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“, ist ihr erstes und ging 2019 in den USA als Bestseller durch die Decke. Das ist eher ungewöhnlich für ein Sachbuch, das kein Ratgeber für ein aufgeräumteres Leben und fokussierteres Denken ist. Auch wenn der Titel so klingen mag, liegt Odell nichts ferner, als Tipps zur entspannten Selbstoptimierung zu geben. Die freischaffende Künstlerin und passionierte Vogelbeobachterin, die ihr Geld als Professorin in Stanford verdient, meint mit ihrem Nichtstun vielmehr eine Art passiven Widerstand gegen alles, was im Internet blinkt, flasht oder sonst irgendwie um Aufmerksamkeit buhlt: „Jetzt kaufen“-Buttons, Clickbait-Fotostrecken, reißerische Headlines, das Dauerrauschen von Social-Media-Timelines und Newsfeeds oder auch Chats und Kommentarspalten, die zunehmend aus dem Ruder laufen. Mit dem Präsidentschaftswahlkampf 2016 erreichte der Wahnsinn einen negativen Höhepunkt, mit offenem Rassismus, Sexismus und in Chatrooms propagierten Verschwörungstheorien, wie etwa der über Hilary Clinton, die angeblich einen Kinder-Porno-Ring im Keller einer Pizzeria in Washington D.C führte. Als im Dezember 2016 ein schwerbewaffneter Mann die Pizzeria stürmte, um die Kinder zu befreien, schien der virtuelle Irrsinn seine reale Spitze erreicht zu haben. Heute wissen wir: Pizzagate war nur ein mildes Vorspiel zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Der Schock darüber, dass mit Donald Trump jemand an die Spitze der Vereinigten Staaten gewählt werden konnte, der all das nicht nur nicht stoppen, sondern befeuern würde, brachte Odell 2017 dazu, auf dem Technologie-Festival Eyeo den Vortrag „How to do nothing“ zu halten. Schon da wurde klar, dass „Nichts“ nicht Nichts bedeutet, sondern vor allem das Gegenteil von dem, was große Konzerne, laute Stimmungsmacher und der wirr tweetende Präsident wollen. Odells Vorschlag: in Parks ab- und den eigenen Gedanken nachhängen. 2017 zeichnete sich noch nicht ab, dass drei Jahre später eine Pandemie die Menschheit dazu nötigen würde, kaum etwas anderes zu tun als sinnierend durch die Natur spazieren – oder im Gegenteil wild auf Webseiten herumzuklicken. Odell nimmt den Laptop mit ins Grüne – in ihrem Fall ist es der Morcom Rose Garden in Oakland, Kalifornien –, um ihren ausgesprochen erfolgreichen Vortrag zu einem Buch auszuweiten. Stoisch schafft sie es, sich dem persuasive design diverser Webseiten und der täglich neuen Onlineflut an Erregungsvorschlägen zu entziehen, um ihren Gedanken über Gemeinwesen, Aussteiger, Bioregionalismus, Widerstand, Bäume, Eichhörnchen und natürlich Vögel freien Lauf zu lassen. Die Dreieinigkeit von Künstlerin, Akademikerin und Vogelfreundin kommt Odell und uns als Leser zugute: Die erste sieht, die zweite analysiert und die dritte findet Analogien in der Natur. Sehr persönliche Beobachtungen gleicht sie mit Hannah Arendts Pluralismus im politischen Raum ab. Sie flirtet ganz unverhohlen mit der Kunst des Verweigerns von Fassbewohner Diogenes, wägt im Zuge dessen auch den freien Willen gegen den Selbsterhaltungstrieb in B.F. Skinners Roman über die Kommune „Walden Two“ ab. Und zwischendurch beschreibt sie immer wieder detailliert ihre Spaziergänge in und um Oakland. All die flammenden Argumente für digitale Askese und stille Kontemplation in „Nichts tun“ setzt Ex-Präsident Barack Obama zu Recht auf seine Literaturliste des Jahres 2019. Prompt wird Jenny Odell zu einer Art Popikone, die sich beim Rummel um ihre Person irgendwann nicht mehr sicher ist, „ob ich wirklich eine Vogelbeobachterin bin oder nur das Image einer Vogelbeobachterin verkörpere.“ Was sie aber gerne sein will und auf fast jeder der 296 Seiten von „Nichts tun“ tatsächlich ist: ein „atmosphärischer Fluss, der zwei Orte miteinander verbindet“.


Jenny Odell
Nichts tun – Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen

C.H. Beck, 296 Seiten

Edda Bauer