Kino

30.08. | Kinostart der Woche

Kindeswohl

KINDESWOHL

Concorde • 30. August

KindeswohlDass Emma Thompson zu den besten Schauspielerinnen der Welt gehört, muss sie nach über 30 Jahren vor der Kamera, Filmen wie „Was vom Tage übrigblieb“, „Tatsächlich... Liebe“ oder „Eine zauberhafte Nanny“ sowie Oscars für „Wiedersehen in Howards End“ und „Sinn und Sinnlichkeit“ niemandem mehr beweisen. Und tut es nun mit der Hauptrolle in „Kindeswohl“ von Richard Eyre doch wieder.

Miss Thompson, Sie sind unglaublich gut beschäftigt. Was braucht eine Rolle, um überhaupt noch Ihr Interesse wecken zu können?

Mich interessieren natürlich vor allem komplexe Figuren mit möglichst vielen Abgründen und Facetten. Das sind schließlich auch im echten Leben immer die spannendsten Menschen. Und diese von Ian McEwan geschaffene Frau in „Kindeswohl“ war nun ganz besonders faszinierend, schließlich steht sie vor einem ungewöhnlichen moralischen Dilemma.

Sie reizte der konkrete Fall, mit dem diese Richterin konfrontiert ist?

Auch, aber nicht nur. Ich fand vor allem spannend, wie sie so tickt. Wie ihr Verhalten von Vernunft und Rationalität dominiert wird, und sie gleichzeitig nur funktioniert, weil ihre Psyche in gewisser Weise gespalten ist. Verständlicherweise, denn als Familienrichterin kann man sicherlich nur arbeiten, wenn man sich zwar täglich mit all diesen Emotionen auseinandersetzt und den brüllenden und weinenden Menschen zuhört, mit denen man zu tun hat, aber das alles gleichzeitig eben auch von sich fernhält und die eigenen Gefühle nicht mit denen vermischt, denen man dort begegnet. Wäre ich mit dieser Fiona befreundet, würde ich ihr vermutlich raten, dass sie sich jemanden sucht, um über all das zu reden, was ihr während der Arbeit begegnet. Ein solches Outlet scheint ihr nämlich zu fehlen. Ihrem Ehemann teilt sie sich jedenfalls nicht mit, denn auch zu Hause ist sie nur mit der Arbeit beschäftigt. Kennen Sie selbst auch Situationen, in denen der Job aufs Privatleben übergreift?

Selbstverständlich. Gerade Schauspielern passiert das sicher besonders oft, schließlich muss man manchmal so tief in eine Rolle eindringen, dass es gar nicht so leicht ist, sich dabei nicht selbst aus den Augen zu verlieren. Wer mit einem Schauspieler oder einer Schauspielerin verheiratet ist, muss deswegen sehr geduldig sein.

Ziehen Sie daraus Konsequenzen für Ihre Arbeit?

Auf jeden Fall. Es kommt immer wieder vor, dass ich Drehbücher lese, die mich zwar interessieren, aber die zur falschen Zeit kommen. Gerade wenn man Kinder hat, muss man sich ständig fragen, ob ein Projekt passt. Verlangt mir diese Rolle gerade zu viel ab, sodass ich mich kaum noch um die Familie kümmern kann? Was steht in der Schule an, kann ich ein paar Wochen abwesend sein? Solche Sachen eben. Aber gleichzeitig gibt es auch einfach Phasen, in denen Geld verdient werden muss. Das sind manchmal die Entscheidungen, die am schnellsten gefällt sind, weil dagegen auch Mann und Kinder nicht argumentieren können. (lacht)

Und wie gehen Sie damit um, wenn Sie eine Rolle vielleicht doch mal zu nah an sich herangelassen haben und nicht wieder loswerden?

Tja, genau das ist das große Problem. Schließlich kann man sie nicht nicht an sich heranlassen. Aber abschütteln muss man sie auf jeden Fall wieder. Manchmal habe ich dafür schon die Hilfe meines Therapeuten in Anspruch genommen, zu dem ich seit vielen Jahren gehe. Vor allem aber helfen natürlich Übung und Erfahrung. Deswegen genieße ich es so, inzwischen fast 60 Jahre alt zu sein. In diesem Alter fällt mir vieles leichter als früher. Angefangen bei dem Erkennen von Rollen, die ich besser ablehnen sollte, weil ich inzwischen sehe, dass der emotionale Preis, den ich für sie zahlen müsste, wahrscheinlich zu hoch ist.

Welche Rollen haben Ihnen im Laufe Ihrer Karriere besonders zu schaffen gemacht?

Da gab es einige. Die Rolle in „Carrington“ etwa, als ich die Malerin Dora Carrington spielte, ließ mich lange nicht los. Auch bei „Imagining Argentina“, der interessanterweise auch von Chris Hampton inszeniert wurde, war es schlimm. Da spielte ich eine Dissidentin und Journalistin und musste mich dieser Rolle ebenfalls mit Haut und Haar verschreiben. Als die Dreharbeiten vorbei waren, konnte ich die Südamerikanerin in mir nicht loslassen und fand es ganz fürchterlich, plötzlich wieder in England sein zu müssen. Aber das war so ein Fall, bei dem mein Therapeut hilfreich war. Denn der machte mir klar, dass es diese feurige Leidenschaft war, die ich nicht wieder aus meinem Leben weichen sehen wollte. Damit konnte ich dann umgehen.

FAZIT: Basierend auf dem Roman von Ian McEwan verhandelt Richard Eyre in „Kindeswohl“ komplexe moralische Konflikte sowohl im beruflichen wie im privaten Alltag einer Familienrichterin. Von Kitsch oder Vereinfachung hält er sich dabei fern und spätestens Emma Thompson in Topform sowie Stanley Tucci als ihr Ehemann machen den Film zu einem echten Erlebnis.

Interview: Patrick Heidmann