30.04. | Buch der Woche: Stefan Schulz • Die Kinderwüste

Hoffmann & Campe

 30.04. | Buch der Woche - Stefan Schulz • Die Kinderwüste

Schulden gleich Schulden?

Ins Militär und in die Infrastruktur sollen die Milliarden fließen, doch lauscht man der Gesellschaftsanalyse des Journalisten Stefan Schulz, wären sie in einer völlig neuen Familienpolitik besser aufgehoben.

Stefan Schulz, eine Billion Euro in unbezahlter Care-Arbeit – diese Zahl aus Ihrem neuen Buch bleibt besonders hängen. Darf man Ihre These so zusammenfassen, dass das moderne Leben auf der unentgeltlichen Ausbeutung der Familien beruht?
Das Anliegen meines Buches ist, einen Moment aufzugreifen, den wir alle als Zäsur sehen – die Tatsache, dass wir uns gerade ernsthafter fragen, ob unsere marktwirtschaftliche Demokratie überhaupt noch funktioniert. Die neue, rechts-alternative Richtung, allen voran verkörpert durch Donald Trump in Amerika, sortiert das Verhältnis von uns Einzelnen und dem Staat gerade neu, und zwar in einer Weise, der etwas entgegengestellt werden muss. Die erwähnte eine Billion Euro dient dazu, die Demokratie und die Marktwirtschaft, wie wir sie haben, zu stabilisieren, und zwar dadurch, dass wir die Familie endlich einpreisen.

Wie sollte das vonstattengehen?
In zwei Dimensionen: wirtschaftlich und politisch. Letzteres bedeutet das Wahlrecht ab null Jahren, bei dem es verschiedene Modelle gibt, wie mit den Stimmen verfahren werden kann. Wirtschaftlich wird die Familie wie ein Unternehmen in die Marktwirtschaft integriert. Das bedeutet, dass wir nicht mehr nur mit vier Billionen Bruttoinlandsprodukt rechnen, sondern ab sofort mit fünf.

Sie rechnen aus, dass dies praktisch darauf hinausläuft, allen Betroffenen 50.000 bis 100.000 Euro entweder direkt auszuzahlen oder aber einen infrastrukturellen Gegenwert zu schaffen, sodass deren Leben reibungslos verläuft – ein Wasserrohrbruch in der Schule etwa führt dann nicht länger zu Unterrichtsausfall, sondern die Klassen ziehen in ein vom Staat gemietetes Tagungshotel um. Erzeugt dieses Management unterm Strich nicht nur wieder einen kafkaesken Bürokratieapparat?
Die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Politik, die Bundeswehr, die Unternehmen, die Universitäten – sie alle brauchen Nachwuchs. Dieser kommt nicht schon bei Geburt, sondern erst ab seinem 20. Lebensjahr dort an. Das heißt, mit diesem Nachwuchs passiert irgendetwas, zwei Jahrzehnte lang. Zu sagen, dieses Geschehen staatlich zu organisieren, sei kafkaesk, dem möchte ich gegenüberstellen, wie wir die Familien jetzt gerade im Stich lassen. Immer noch folgen wir der biblischen Idee, die Liebe der Mutter zum Kind werde es schon richten. Augen zu und durch, liebe Mutter, bitte stell uns nach zwanzig Jahren einen fertigen Soldaten, einen fertigen Studenten, einen fertigen Behördenmitarbeiter hin – das ist kafkaesk!

Was impliziert, dass Sie als Soziologe nachweisen können, dass immer die Mütter gemeint sind, wenn es heißt, es bleibt an »den Familien« hängen.
Es bleibt ausschließlich an den Müttern hängen. In der Corona-Pandemie haben wir das besonders eindrücklich vor Augen geführt bekommen. Alles fiel aus, nur eines nicht – die Familie. Und wie entscheidet sich, wer dann daheimbleibt? Natürlich diejenige, die in 90 Prozent der Fälle weniger verdient. Das ist der Zustand, den wir jetzt einbetoniert haben – alles darf ausfallen, außer die Mutter.

Wenn der Staat bis zu 100.000 Euro für Familien mit Kindern bereitstellt – was ist daran groß anders als an der indirekten Nachwuchsprämie von dem Ihnen sicherlich auch unsympathischen, ungarischen Regierungschef Viktor Orbán, der ab dem vierten Kind lebenslange Steuerbefreiung verspricht?
Meine Idee setzt daran an, die Kinder selbst finanziell zu fördern. Orbáns Idee lautet: Du bist sowieso schon Teil der arbeitenden Klasse, dann erlassen wir dir die Einkommenssteuer. Ich möchte die Frage der Finanzierung einer Kindheit nicht vom Schicksal der Eltern abhängig machen – und nicht wie Orbán, wie Trump oder wie die PiS-Partei in Polen sozusagen unter der Bettdecke hindurch regieren. Im Gegenteil, es geht mir darum, einen neuen finanziellen Raum der Freiheit in der Privatsphäre zu schaffen, in dem man Eltern nicht diktiert, was hier Sachlage ist, sondern indem man sagt: Ihr bekommt eine finanzielle Unterstützung, weil wir euch vertrauen und weil wir wissen, dass ihr das Beste für eure Kinder macht – ohne politische Ideologie als Beipackzettel.

Sie sind ein dezidierter Linker, damit macht man Ihnen sicher keinen Vorwurf. Es gab aber auch Soziologen, die haben sich wie Sie Gedanken über Demografie gemacht und sind dabei auf ganz andere, gemeinhin als »rechts« verschriene Gedanken gekommen, so etwa Gunnar Heinsohn
Gunnar Heinsohn hat zusammen mit Otto Steiger damals die Eigentumsökonomik gegründet, deren Grundgedanke war: Alles Geld muss durch echtes Eigentum gedeckt sein. Diese Sichtweise liegt vor einer Zeit, in welcher sich die demografischen Vorzeichen in der westlichen Welt radikal verdrehen. Deutschland muss heute eine demografische Schicksalsfrage lösen: Wen lassen wir beim Kampf um die Köpfe ins Land, sodass sich die zivilisatorische Schwungmasse namens Arbeitnehmer zu unseren Gunsten wendet? Dabei können wir aber eben nicht groß unterscheiden zwischen einem fertigen Facharbeiter und einem Dreijährigen, der im Rahmen des Familiennachzugs kommt. Die Hälfte der Migration nach Deutschland ist minderjährig und diese Menschen müssen integriert, sozialisiert und gebildet werden – nicht anders als die frischen Ankömmlinge aus deutschen Familien.

Nach Ihrem Modell ginge das alles, wenn man die Prioritäten richtig setzt. Aber was schichten wir von wo um, hinein in die Schulen, in die Kitas, in die Zukunft?
Das ist die große Frage und die überraschen-de Antwort lautet: Man muss das Geld niemandem wegnehmen. Deutschland ist auf einem Verschuldungsstand von 60 Prozent im Vergleich zur BIP-Leistung des Landes. Was bedeutet, wir haben einen Schuldenstand von ungefähr zweieinhalb Billionen Euro. Den könnten wir einfach verdoppeln, um mit den anderen Ländern dieser Welt auf Augenhöhe zu kommen. Würden wir es wie Japan organisieren, hätten wir sogar einen Spielraum von sieben oder acht Billionen Euro. Vergleichen wir uns mit Amerika, sind da immer noch drei, vier Billionen Euro Spielraum.

Aber das funktioniert doch alles nur unter der Annahme, dass diese Schulden de facto niemals zurückgezahlt werden müssen
Ein großer Teil des Geldes stammt von der Europäischen Zentralbank. Sie erschafft es einfach aus dem Nichts, das sind Buchwerte in einer Excel-Tabelle. Es wurde einfach auf einen Zettel geschrieben, dass Deutschland jetzt so und so viel Geld überwiesen bekommen hat. Dieses Geld hat keinen Absender. Es hat nur einen Adressaten. Das beantwortet auch die Frage, wem wir es zurückgeben sollen. Niemand hat einen Anspruch auf dieses Geld. Die EZB hat es bei sich verbucht und möchte es nicht zurück. Aber sie möchte, dass es genutzt wird und in den Kreislauf gelangt. Eine private und eine staatliche Haushaltsführung sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Nur weil Schulden ‚Schulden‘ heißen, heißt das noch lange nicht, dass sie zurückgezahlt werden müssen.

Wäre ich ein Kind, das in Ihrer Vision bald wählen darf, würde ich an dieser Stelle die Frage stellen: Wieso muss ich für einen Beruf lernen, in dem ich später das Geld hart verdienen muss, während Staaten es einfach endlos drucken können? Wieso drucken wir es dann nicht für alle endlos, so wie bei »Star Trek« alle Probleme dadurch gelöst sind, aus reiner, unerschöpflicher Energie alles Benötigte herstellen zu können?
Aus genau diesem Grund! Weil wir noch nicht alles aus dem Nichts herstellen können. Wir haben keine Replikatoren, sondern brauchen immer noch Produktionsprozesse. Alles dreht sich um eine Balance aus Produktion und Finanzierung. Wenn wir eine Überproduktion von Geld haben, aber keine Produktion von Autos, Handys und Waren aller Art, die damit Schritt hält, dann haben wir einfach nur noch Geld. Das heißt dann Inflation und die Angst vor ihr ist vor allem im deutschen Gedächtnis einprogrammiert. Dann weiß man, es geht gar nichts mehr. Deshalb hat die EZB auch nur ein einziges Mandat und dieses Mandat lautet eigentlich, kein Geld zu drucken. Das kann sie einfach nur, das ist ihre Fähigkeit. Ihr politisches Mandat lautet, das Inflationsziel von zwei Prozent einzuhalten.


Stefan Schulz
Die Kinderwüste
Hoffmann & Campe / 160 Seiten / 22,00 €

Oliver Uschmann


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