Literatur

30.01. | Hörbuch der Woche

Michel Houellebecq • Serotonin

Michel Houellebecq

Serotonin

DAV • 31. Januar • 568 Minuten

gelesen von Christian Berkel

TOTEM OHNE TABU

Michel Houellebecqs Roman „Serotonin“ ist eine hoffnungslose Suche nach dem verlorenen Glück. Das Ende der Phallokratie bedeutet noch lange nicht den Sieg der Liebe.

Am Anfang war das Totem. In Michel Houellebecqs neuem Roman „Serotonin“ haust ein depressiver, lustloser Mittvierziger mit einer zoophilen japanischen Gangbang-Liebhaberin zusammen in der „Tour Totem“. Der Totem Turm, ein brutalistisches Gebäude, ragt als phallische Morchel aus Beton in den Pariser Himmel. Er ist das unverbrüchliche Symbol einer Zeit, in der Menschen noch kopulierten und eine Ahnung von Glück und Liebe hatten. Florent-Claude Labrouste hingegen, ein Agraringenieur und Verfechter regionaler französischer Produkte, befindet sich in einer kapitalistischen Endzeit, die impotente Gefühlsmutanten gebiert. Sex ist längst zum Konsumobjekt degeneriert, die Muschis unterscheiden sich nicht mehr und nicht weniger als die Hummus-Sorten im Supermarkt. Für Florent-Claude ohnehin nicht von Belang, denn einen „triumphalen Phallus“ gibt es nur noch in seiner Erinnerung. Er selbst ist ein „substanzloses Weichei“, das vergeblich die verlorene Virilität wiederaufzuspüren versucht. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denn der Weg ist vorgezeichnet: Es ist eine Reise in eine „Nacht ohne Ende“. Parallel zum Scheitern, zur Dekomposition seines Protagonisten zeichnet Houellebecq ein Endzeitszenario Europas. Selbst der Tourismus- und Dienstleistungssektor tritt in seine finale Phase ein. In verrottenden Ferienbungalows logieren ein pädophiler Ornithologe und Florent-Claude, der Mann des Eros und Thanatos. Die Globalisierung versetzt der gebeutelten französischen Landwirtschaft den Todesstoß. Argentinischem Fleisch und Putins Ignoranz gegenüber normannischem Käse steht der französische Bauer hilflos gegenüber. Eine geplante Revolte scheitert. Aymeric, der adlige Anführer und Freund Florent-Claudes, jagt sich eine Kugel in den Kopf. Auch der Liebe, das Einzige, „woran man vielleicht noch glauben konnte“, droht der Exitus. Sowohl Kate als auch Camille, beide hochbegabt und hingebungsvoll, verlor Florent-Claude einst durch seine unkontrollierte Libido. Was bleibt, ist das „sich vom Tod erfasst fühlende Tier.“ Ob Kuh, Makake oder milbenverseuchtes Huhn, kein Totem bietet Schutz in dieser Welt. Auch Captorix, die Pille, die Florent-Claudes Serotonin-Spiegel regeln soll, ist nur ein Notbehelf gegen die Depression. Die Dosis steigt, die Libido sinkt, der Hippocampus schrumpft, die Amygdala wuchert. Dieses Auf und Ab der physiologischen Wirkungen ist auch die DNA des Buches. Auf eine Latenzzeit folgt ein hochkonzentrierter Houellebecq, der all seine Erfolgssubstanzen (Sex, Tod und Kulturkritik) zur Wirkung bringt. Dass der Autor sein Serotonin und damit auch die Wirkung seines Schreibens ausschleichen lässt, ist absehbar. Les jeux sont faits und das Ende naht. Es ist fatal: Florent-Claude ist für immer gefangen in seiner „eigenen Hölle“. Diesem existenziellen Dilemma zu entkommen ist unmöglich. Deshalb schließt sich Houellebecqs Romantiker mit gigantischen Bildern der Geliebten an der Wand in ein Zimmer ein, um sich zu opfern und wiederzukehren als Heiland oder Antichrist. Über 9 Stunden trägt Christian Berkels charakterstarke Stimme durch diesen dichten, mitreißenden Roman. Ute Cohen