Musik
29.11. | Album der Woche
Tears For Fears • Songs For A Nervous Planet
Concord/Universal · 25. Oktober
Foto: Chapman Baehler
Zur Schieflage der Welt
Zwei Jahre nach ihrem überzeugenden Comeback »The Tipping Point« legen Tears For Fears jetzt mit ihrem ersten Livealbum »Songs For A Nervous Planet« nach, bei dem der Name Programm ist. Die Welt rückt näher an den Abgrund und Liebe ist immer noch die einzige Antwort. Curt Smith und Roland Orzabal kennen sich mit beidem aus.
Wenn Menschen im Kreis rennen, dann ist es eine verrückte Welt. Diese Welt wiederum wollen alle irgendwie regieren. Dabei sollte man doch besser erst einmal seinen Ärger hinausschreien, Dinge verändern, Frauen befreien, Liebe säen, dann würde man vielleicht auch jenen Wendepunkt erreichen, an dem wieder alles möglich ist. Tears For Fears haben es von Anfang an gewusst und Dutzende wunderbarer Songs daraus gestrickt: Das Ende ist nah, der Soundtrack zum Untergang jedoch, er klingt potenziell großartig. Und vielleicht wendet er selbigen ja sogar ab. Mit ihrer ersten Single »Mad World« schufen sie Anfang der 80er bereits einen Klassiker für die Ewigkeit, es folgten Hits wie »Change« und »Shout« oder »Everybody Wants To Rule The World«, das zeitlose Lied von der Weltherrschaft. Zum Ende der Dekade sehnten sie sich mit »The Seeds Of Love« in die Ära von Peace, Love und Freedom zurück. Kaum ein Zufall, dass sich das Sonnenblumen-Thema von damals im Artwork der neuen Platte wiederfindet. »Songs For A Nervous Planet« lautet der Titel, eine thematische Klammer, die seit 40 Jahren so etwas wie der Grundton im Oeuvre der Band ist. Nervöse Jungs machen Musik für einen nervösen Planeten, damals wie heute. Früh hatten die beiden Janovs Urschrei-Theorien für sich entdeckt, verinnerlichten Psychoanalytisches und waren schnell zu dem Schluss gekommen, dass sich ihr Sound musikalisch durchaus ins Ohr schmiegen sollte, während es inhaltlich jedoch zur Sache gehen muss. Keine Worthülsen, kein Happy-go-lucky, keine Saxofon-Solos auf Segelyachten. Der autobiografische Aspekt dient dabei als Universalschlüssel, man wollte dahin gehen, wo es schmerzt, das passte in den turbulenten Lebensabschnitt von Teenage-Angst und Adoleszenz ebenso wie zur Midlife Crisis, zu internen Verwerfungen, Verlusten und – everything is possible – zur Versöhnung. Zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht das 1981 im englischen Bath gegründete Duo eine Liveplatte. Endlich, muss man sagen, denn Tears For Fears sind im Konzert ein echtes Naturereignis. „Man könnte sagen, dass wir 40 Jahre lang daran gearbeitet haben“, so Roland Orzabal augenzwinkernd, während Curt Smith ergänzt: „Viele Leute sehen uns als Duo, das sich im Studio hinter Synthies und Computern verschanzt, aber das ist ja überhaupt nicht der Fall, im Gegenteil.“ In der Tat, wer die beiden im Kreis ihrer fantastischen Band mal live gesehen hat, wird dieses Erlebnis so schnell nicht wieder vergessen. Der Back-Katalog ist natürlich ein ordentliches Pfund. Wer derart aus dem Vollen schöpfen kann, schreibt seine Setlists mit selbstbewusster Tinte. Dabei zehren die beiden auch von dem Umstand, dass sie nie zur Tribute-Band ihrer selbst geworden sind. In den 90ern, als man sich überwarf und trennte, machte Orzabal allein weiter, erst 2004 gab es ein neues, gemeinsames Album zur Feier der wiedergefundenen Freundschaft. Währenddessen hatte ihr Werk längst ein Eigenleben entwickelt. Zeitgenössische Acts wie Hot Chip und The Weeknd, Solisten wie David Guetta und Drake coverten, sampleten und zitierten ihre Songs, transportierten den Sound der Band so in die nächste Generation. Ein Umstand, der die beiden anspornte, sich nicht auf den Lorbeeren auszuruhen. »The Tipping Point«, 2022 das erste Album seit 18 Jahren, verband Trademark-Sound mit konsequenter Weiterentwicklung, ein Werk, so tief und vielschichtig, wie es nur wenige Bands vier Dekaden nach ihrer Gründung hinbekommen. Auf »Songs For A Nervous Planet« lassen sich all die Klassiker nun im Livegewand genießen, eine Album gewordene Aufforderung, bei nächster Gelegenheit ein Konzertticket zu lösen. Zudem haben Orzabal und Smith es sich nicht nehmen lassen, auch noch vier neue Tracks zu integrieren und mit »Tears For Fears Live (A Tipping Point Film)« einen opulenten Konzertfilm auf die Beine zu stellen. Dass die Band im Herbst für eine Reihe von Shows nach Las Vegas geht, ist eine schmucke Visitenkarte. Ein Fall für die Showpalast-Rente sind Orzabal mit grauer Mähne und Bart und der ewig jugendliche Smith dennoch nicht – dazu sind sie, und mit ihnen dieser verrückte Planet, immer noch viel zu nervös.
TEARS FOR FEARS
Songs For A Nervous Planet
Concord/Universal • 25. Oktober
Der Mix aus Studiomaterial und Liveaufnahmen ist nicht ganz die reine Lehre, aber bei gleich vier neuen TFF-Songs sieht man als Fan gern darüber hinweg. Die Bandbreite ist immens. Während »Say Goodbye To Mum And Dad« etwas süßlich daherkommt, sind »The Girl That I Call Home«, Orzabals überfälliges Liebeslied an seine Frau, und »Emily Said«, mit Beatles-Bläsern und -Chören ausgeschmückt, erstklassig. »Astronaut«, das an E.L.O. erinnert, hat das Zeug zum Klassiker. Die Live-Setlist im Anschluss lässt buchstäblich keine Wünsche offen, von »The Tipping Point« bis »Shout«, im Amphitheater von Graystone Quarry in Franklin, Tennessee, aufgenommen, entsteht eine Wucht. Abgerundet wird das Ganze mit dem Konzertfilm »Tears For Fears Live (A Tipping Point Film)«, der die Atmosphäre eines Konzerts von Tears Fears filmisch und klanglich eindrucksvoll wiedergibt.
Ingo Scheel