Kino
29.10. | Neustarts der Woche
SCHWESTERLEIN
Weltkino • 29. Oktober
»Schauspielerei hat mit Maskentragen nichts zu tun.«
Lars Eidinger kann einem dieser Tage im Film oder im Theater begegnen, als DJ oder als Gaststar in Deichkind-Videos. Zuletzt ist der vielseitige Darsteller sogar als Taschen-Designer in Erscheinung getreten, außerdem hat er einen Fotoband beim Verlag Hatje Cantz veröffentlicht. In seinem neuen Kinofilm »Schwesterlein« geht es für ihn ganz nah an den Ursprung. Er spielt einen todkranken Theaterschauspieler, der ein letztes Mal als Hamlet auf der Bühne stehen möchte und dabei von seiner Schwester unterstützt wird.
Lars Eidinger, in einer Rezension zu
»Schwesterlein« war zu lesen, Sie spielen
sich eigentlich selber. Können Sie damit
etwas anfangen? Und geht das überhaupt?
Sich selber zu spielen, ist die schwierigste
Disziplin überhaupt. Ehrlich gesagt glaube
ich sogar, dass es unmöglich ist. Es sagt sich
immer so leicht: »Den Schauspieler finde ich
nicht so interessant. Der spielt sich ja immer
nur selbst.« Ich glaube, das ist ein Irrtum.
Wir alle nehmen unterschiedlichste Rollen an.
Sie sind jetzt im Gespräch auch anders als beim
Bäcker, beim Doktor oder bei Ihrem Partner.
Das sind alles unterschiedliche Charaktere,
die zusammen eine Persönlichkeit ausmachen.
Klar drängt sich der Gedanke auf bei Schauspielern,
die Schauspieler spielen. Aber ich
sehe mich in dieser Figur genau so wenig wie
etwa in einem Mörder aus dem »Tatort«.
Die Unterscheidung kann auch verwirrend sein. Das ist, als ob in Filmen jemand einen Film guckt. Der Film im Fernsehen soll nur ein Film sein, der Film drum herum aber irgendwie echter. Shakespeare benutzt dieses Stilmittel. In seinen Stücken thematisieren Figuren, die unmittelbar vom Tod bedroht sind oder im Begriff sind wahnsinnig zu werden, ob sie nicht vielleicht nur Schauspieler auf einer Bühne sind. Julia sagt beispielsweise: »Vielleicht bin ich ja nur die Hauptfigur in einem Stück.« Ich finde es interessant, dass diese Meta-Ebene, die einem für einen Moment die Illusion nimmt, das Erleben noch komplexer und intensiver macht. Quasi im Brechtschen Sinne: »Zeigt, dass ihr zeigt.«
Aber guckt man Filme nicht wegen der Illusion,
die sie erzeugen?
Ich behaupte, dass das ein Rudiment der Propaganda-
Maschine der Nationalsozialisten ist.
Und dass Brecht viel weiter war, als er sagte, er
möchte keine Zuschauer, die sich einlullen lassen.
Daher das berühmte Zitat: »Glotzt nicht
so romantisch!« Er möchte einen Zuschauerraum
voll von Fachleuten, so wie es Fußballstadien
voll von Fachleuten gibt. Goebbels
dagegen wollte etwas inszenieren und die Leute
glauben machen, es wäre nicht gestellt, sondern
real. Wenn also ein kleiner Junge dem Führer
einen Blumenstrauß überreicht und der Führer
ihm über den Kopf streichelt, dann wurde das
zehnmal gedreht, bis es so aussieht, als ob es
so passiert ist, und darauf sind die Leute reingefallen.
Goebbels hat das Publikum für dumm
verkauft. Und Brecht hat sie immer für voll
genommen und gesagt: »Ihr dürft wissen, dass
es inszeniert ist, denn das macht es nicht uninteressanter,
sondern im Gegenteil komplexer.«
Auf die Gefahr hin, dass Sie das öfter hören:
Warum sieht man Sie so verhältnismäßig oft
nackt?
Aus Scham. Weil ich gemerkt habe, dass es mir
einen Grad an Intensität verschafft, wenn ich
Widerstände überwinde. Ich will mich eigentlich
nicht ausziehen. Ich geniere mich. Ich gehe
auch nicht an den FKK-Strand. Ich schäme
mich in der Sauna und laufe auch zu Hause
nicht nackt rum.
Warum dann auf der Bühne?
Es geht darum, sich schutzlos zu zeigen und
damit angreifbar zu machen: Bei Richard III
ziehe ich mich zu Beginn des Stücks komplett
aus, um Lady Ann zu verführen. Die Verführung
besteht darin, dass man sagt: »Ich liefere
mich dir komplett aus, du siehst, ich bin unbewaffnet.
Du kannst mich töten, ich würde für
dich sterben.« Was ja das größte romantische
Versprechen überhaupt ist. » Ich gebe dir
sogar noch das Schwert und setze es mir auf
die Brust. « Das ist das, was sie beeindruckt.
Und ich glaube, dass man das übertragen kann.
Ich glaube, dass ein Künstler, der sich angreifbar
macht, attraktiv ist. Nacktheit hat mit
Verletzlichkeit zu tun, mit Sich-Öffnen. Deswegen
denke ich auch, dass Schauspielerei mit
Maskentragen nichts zu tun hat. Sondern eher
mit Demaskieren. Ich bin, glaube ich, auch der
einzige Schauspieler an der Schaubühne, der
nie in die Maske geht. Schauspielerei heißt für
mich nicht, mich zu verstellen oder zu verwandeln,
sondern im Gegenteil, mich zu zeigen.
Nicht zu lügen, sondern aufrichtig zu sein.
Interview: Markus Hockenbrink
UND MORGEN DIE GANZE WELT
Alamode • 29. Oktober
Es lebe der Widerstand
Ein Film mit Haltung: »Und morgen die ganze Welt« erzählt spannend und ungeschönt von der schleichenden Radikalisierung einer jungen Frau.
Die gute Nachricht: der deutsche Film ist
nicht tot. Die schlechte: der deutsche Nationalismus
auch nicht. So richtig lebendig wird
der deutsche Film aber erst, wenn er sich den
deutschen Nationalismus vorknöpft. » Und
morgen die ganze Welt « tut das fast schon
buchstäblich, wenn in der allerersten Szene
eine junge Frau mit einem Jagdgewehr durchs
Gestrüpp streift. Wer sie ist, was sie vorhat und
in welchem Ansinnen, ob links oder rechts –
man weiß es nicht. Noch nicht. So ein Auftakt
in einem Film ist ein altbewährter Spannungskniff.
Bei Regisseurin und Co-Autorin Julia
von Heinz ist es aber auch der Einstieg in eine
Geschichte, die von Radikalisierung erzählt,
vom Recht auf Widerstand – nach Artikel 20,
Absatz 4 des Grundgesetzes – und von der
Wahl der Mittel, dieses Recht durchzusetzen.
Luisa, die Frau aus der ersten Szene, erfährt
davon in einer Vorlesung an der Uni. Sie studiert
in Mannheim Jura im ersten Semester
und brennt darauf, im Autonomen-Projekt
P81 aufgenommen zu werden. Dort feiert man
nicht nur Partys und geht nachts containern,
vielmehr bereitet man sich auch auf Aktionen
gegen rechte Demos vor. Regisseurin
Julia von Heinz hat die Kamera an die Fersen
ihrer Protagonistin geheftet. Das verstärkt
die Innenansicht und dokumentiert Luisas schleichende Radikalisierung. Immer wieder
wirft das Drehbuch die Frage nach Moral und
Angemessenheit der Mittel in den Raum: Nach
Demos, vor Blockaden und erst recht nach
dem Fund von Sprengstoff in einem Nazi-Nest.
Dass Luisas Weg von der Jura-Studentin hin
zur Aktivistin nachvollziehbar bleibt, liegt daran,
dass Julia von Heinz ihn selbst gegangen
ist. Nicht ganz genau so, aber mit derselben
Entschlossenheit, derselben Ohnmacht gegenüber
Hass und Rassismus und demselben
Glauben daran, das Recht auf ihrer Seite zu
haben. Dass das auch die Rechten glauben,
deutet schon der Titel »Und morgen die ganze
Welt« an, der aus dem Gesangbuch der Hitlerjugend
stammt. Es sind Filme wie dieser, mit
starkem Anliegen gesegnet – David Wnends
»Kriegerin«, Burhan Qurbanis »Wir sind
jung, wir sind stark« und Robert Schwentkes
»Der Hauptmann«. Es sind Regisseure, die
Haltung zeigen. Und junge Schauspieler, die
vor unangenehmen und ungeschönten Rollen
nicht zurückschrecken, hier neben Noah
Saavedra und Tonio Schneider vor allem Mala
Emde, die bei den diesjährigen Filmfestspielen
in Venedig mit dem Bisato d'Oro, dem Preis
der unabhängigen Filmkritik, ausgezeichnet
wurde. Solange all das existiert, wird der deutsche
Film nie sterben.
Edda Bauer
THE BOOKSELLERS
Mindjazz • 29. Oktober
Dieser Typ, fanatisch, spanischer Akzent
– er sagt, selbst seine Mutter würde
er verkaufen. Und diese Frau, gefährlich funkeln ihre Augen: Wer
ein profanes Glas auf ihre Bücher stelle, müsse um sein Leben fürchten.
Alles nur Spaß, Buchsammler sind zu smart für solche Dummheiten.
Doch ein Fünkchen Wahrheit schwingt schon mit, das hier ist
mehr als eine Leidenschaft. Treffpunkt ist New York City, einmal im
Jahr öffnet die Antiquarian Book Fair ihre Pforten. Im historischen
Gebäude an der Park Avenue sei früher Sport getrieben worden, berichtet
ein verschmitzter Herr, er selbst habe hier mal Tennis gespielt.
Die Uhr an der Wand steht still, zeitlos wie im Casino. »Oder wie auf
einem Raumschiff, mit zweifelhafter genetischer Selektion«, scherzt
einer der Besucher. Dokumentarisch dreht sich alles um das Faszinosum
Buch, dessen zeitenüberdauernde Präsenz. Antiquariate sind hier
Galaxien, die immer neuen Stoff eröffnen – ihre Bewohner eint vor
allem eins: die Lust, beim Stöbern überrascht zu werden.
Christian Lamping
_Foto: Jonas Friedrich/Vega Film