Literatur

29.01. | Buch der Woche

Volker Kutscher • Rath

Piper

29.01. | Buch der Woche - Volker Kutscher • Rath

Romanreihe zwischen Geschichte und Graphic Novel

Ermittlerpaar Gereon Rath und Charlotte Ritter führen in zehn Romanen durch den Wandel Berlins von Demokratie zur Diktatur. Volker Kutscher veröffentlicht den Abschluss seiner Reihe, die weitaus mehr ist als guter Krimi.

Volker Kutschers zehnbändige Romanreihe um Kommissar Gereon Rath und seinem Leben zwischen 1929 und 1939 im Berlin der scheidenden Weimarer Republik und Machtergreifung der Nazis hat in den letzten Jahren nicht nur Krimifans überzeugt, sondern eine breite historisch interessierte Leserschaft angesprochen und als Vorlage für einer der kostspieligsten und erfolgreichsten deutschen Serien gedient. „Babylon Berlin“ versammelt in bisher vier Staffeln die Premium-Liga der deutschen Schauspielerlandschaft, die Filmrechte wurden an über hundert Länder verkauft. Kutscher bietet mehr als nur Kriminalgeschichten: er fängt das Spannungsfeld einer Gesellschaft am Rande eines historischen Umbruchs ein.

Die Stärke der Romane liegt in der Detailtreue der historischen Hintergrundgeschichten, etwa der Beschreibung des Blutmai im Auftaktband „Der nasse Fisch“, den Unruhen Ende der 20er Jahre, in der sich die Polizei Straßenschlachten mit Demonstranten der Kommunistischen Partei liefert, und der gleichzeitigen schriftstellerischen Souveränität, mit der Wucht der Recherche nicht die persönliche Geschichte seiner Figuren zu erdrücken, sondern sie zu realistischen Schicksalen zu erheben. Wo andere literarische Recherchefanatiker wie Frank Schätzing schon mal zu Erklärbären von Mittelalter oder Klimawandel werden, bleibt der allwissende Autor bei Kutscher im Hintergrund und eröffnet dem Leser überzeugende Einblicke in das widersprüchliche und zutiefst verunsicherte Gefühlsleben der Menschen als Deutschland zur totalitären Diktatur wurde. Dabei begleitet der Leser den erfolgsgetrieben Kriminalbeamten Rath auf der Suche nach seinem eigenen moralischen Kompass und der Liebe zu Kollegin und späteren Gattin Charlotte durch die Olympiade, das Ende des Stummfilms, Berliner Bandenkriegen, Vergnügungsvierteln, Luxushotels und Baracken. Er vermischt dabei gekonnt nüchterne und spannende Faktendarlegung a la Historiker Oliver Hilmes mit der visuellen Vielseitigkeit ähnlich der Graphic Novel „Berlin“ von Jason Lutes. Kutscher kann sich aber auch mit Werken aus der Zeit selbst messen, etwa dem wiederentdeckten Roman „Dritter Hof links“ von Erhard Schütz und Günther Birkenfeld, in dem die schwierigen Lebensverhältnisse von Arbeiterfamilien in Berlin unverblümt und ohne sozialromantische Verklärung dargestellt wurden.

In „Rath“ nun, soll die Bestseller-Reihe zum Abschluss gebracht werden, und zwar so, dass das Ende sitzt, wie Kutscher es in einem Interview beschreibt. Und das tut es! Die Handlung spielt im September 1938, kurz vor dem Münchner Abkommen und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Atmosphäre in Deutschland ist düster, repressiv und von der nationalsozialistischen Ideologie durchdrungen, ethnische Säuberungsmaßnahmen wie das Eugenikprogramm zur Dezimierung von als „psychisch krank“ eingestuften Menschen, greift um sich. Charlotte arbeitet als Detektivin und ist gezwungen sich mit ihren Ehemann Gereon heimlich zu treffen, da er wegen politischer Spannungen zunächst in die USA fliehen musste und jetzt wieder zurück in Deutschland ist, um nach seinem todkranken Vater zu sehen. Figuren wie Ziehsohn Fritze, den Charlotte und Gereon von der Straße holten und der dann zum glühenden Hitlerjungen wird oder SS-Offizier Tornow, der durch Gereon seinen rechten Arm verloren hat, sind eindringliche Puzzleteile in einem Finale, das Handlungsstränge aus zehn Büchern furios zusammenführt und einen literarisch wertvollen Blick in die Abgründe und Hoffnungslichter menschlicher Natur gewährt.


Volker Kutscher
Rath
Piper / 624 Seiten / 26,00€

Miguel Peromingo