28.08. | Kinostart der Woche: In die Sonne schauen
Foto: © Fabian Gamper / Studio Zentral
Was bleibt
Zur Weltpremiere in Cannes wurde Mascha Schilinskis so ambitionierter wie komplexer »In die Sonne schauen« als Sensation gefeiert und mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Wir sprachen mit der Berliner Regisseurin über ihren zweiten Film, bei dem ihr Lebensgefährte Fabian Gamper für die Kamera verantwortlich zeichnete.
Mascha Schilinski, Ihr Film »In die Sonne schauen« spielt in einem Zeitraum von rund 100 Jahren, immer auf dem gleichen Vierseithof in der Altmark. Wie haben Sie entschieden, auf welchen vier Zeitebenen Sie Ihre Geschichte ansiedeln?
Meine Ko-Autorin Louise Peter und ich haben uns daran orientiert, wann dieser Hof erbaut worden ist. Das war 1904, also sollte unsere erste Zeitebene ein paar Jahre später sein, wenn die Familie da schon ein wenig lebt. Aber wir haben bewusst nie konkrete Jahreszahlen genannt. Das erschien uns nicht relevant, weil wir uns ja mit dem Thema Erinnerung auseinandersetzen und damit, wie unsere Erinnerung und unsere Vorstellungskraft ineinandergreifen und wie fluide das Ganze dadurch ist. Dadurch, dass es uns darum ging, wie Traumata über Generationen weitergereicht werden, war es aber auf jeden Fall spannender, jeweils ein bis zwei Generationen zu überspringen. So, dass die Figuren, von denen wir erzählen, nicht mehr konkret aufeinandertreffen, sondern die Frage viel eher ist, was bleibt, wenn man gar nicht mehr weiß, wer eigentlich die Vorfahren waren.
War es Ihnen dabei auch wichtig, von den Weltkriegen oder der deutschen Teilung, also konkret einem Jahrhundert deutscher Geschichte zu erzählen?
Das stand für uns eigentlich nicht im Vordergrund. Uns ging es um ganz feinstoffliche, eher philosophische Fragen. Warum man immer mal wieder keinen Zugriff auf den eigenen Körper hat, warum sich manche Dinge so komisch entziehen oder warum man mitunter das Gefühl hat, in seinem eigenen Leben ein Stellvertreter zu sein, der irgendetwas ausfechten muss, was vermeintlich gar nicht das eigene Thema ist. Im Zentrum stand das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Trauma, dem wir uns nicht psychologisierend, sondern phänomenologisch nähern wollten. Anfangs waren wir gar nicht sicher, ob das überhaupt ein Film werden kann oder wie wir das greifbar machen können. Denn es ging ja darum, diese Dinge zu zeigen, für die es keine Worte gibt. Zumindest nicht in unserer westlichen Kultur, wo man sich genau von diesen Phänomenen mit Hilfe der Ratio abgewandt hat.
Bei der Weltpremiere in Cannes betonten Sie, wie schwierig es war, »In die Sonne schauen« umzusetzen. Was waren aus Produktionssicht die größten Herausforderungen?
Eine war natürlich das sehr schmale Budget. Das entsprach einem durchschnittlichen Debütfilm, aber nicht unbedingt einem zweieinhalbstündigen Film, der mit vielen Kindern und Tieren arbeitet und auf vier Zeitebenen spielt, also mit einer großen, historischen Ausstattung. Das hat nur funktioniert, weil das ganze Dorf rund um den Hof mitgeholfen hat. Der Bauer hat extra für uns sein Kornfeld stehen lassen, und alle haben geguckt, was in ihren Scheunen noch an historischen Materialien herumsteht. Da wir am Originalmotiv und nicht im Studio gedreht haben, mussten wir außerdem die Erzählebenen chronologisch abarbeiten, weil wir das Haus immer nur einmal von oben bis unten für die jeweilige Zeit vorbereiten konnten. Herausfordernd war aber auch einfach der Sommer 2023, denn der war zumindest in der Altmark komplett verregnet. Wir wollten diesen endlosen, heißen Sommer erzählen, aber stattdessen standen die Kinder mit blauen Lippen bei neun Grad im Fluss.
Apropos Kinder: Wäre es in dieser Hinsicht nicht einfacher gewesen, sich auf die erwachsenen Figuren zu konzentrieren?
Ich nehme mir immer mal wieder vor, mir den Stress zu ersparen, mit Kindern zu arbeiten. Aber ich liebe es einfach. Und in diesem Fall fand ich es besonders wichtig, weil Kinder diese halluzinative Kraft haben, diese Leerstellen aufzuspüren, also die Dinge, die nicht benannt werden. Sie sind wie kleine Detektive, die sehr schön unsere Welt entlarven und die Absurditäten darin ausmachen können. Einfach weil sie all die vorgefertigten Konzepte noch nicht verinnerlicht haben, sondern gerade erst versuchen, sich darin zurechtzufinden. Dieser kindliche Blick kann uns unglaublich viel über unsere Welt der Erwachsenen zeigen.
In die Sonne Schauen
2 Std. 39 Min.
Über vier verschiedene Epochen beobachtet Mascha Schilinski in »In die Sonne schauen« die unterschiedlichen Generationen, die unter dem Dach eines Vierseitenhofs in der ostdeutschen Provinz nahe der Elbe leben. Es ist keine Handlung im klassischen Sinn, die diese verschiedenen Zeitebenen miteinander verbindet, und auch keine Chronologie. Schilinski springt hin und her zwischen ihnen oder lässt sie vielmehr ineinander fallen. Was dabei, auch im Verweben der vier jungen Protagonistinnen, ihrer Biografien und der Frauen in ihrem Leben, entsteht, ist eine chorale Vielstimmigkeit, die mit sich zusehends verdichtender Poesie und im engen 1,37:1-Bildformat von deutscher Geschichte erzählt, aber vor allem von Schmerz und Versehrtheit, den allgegenwärtigen Geistern der Vergangenheit und generationsübergreifendem Trauma. Ein kleines Meisterwerk!
Patrick Heidmann