Kino

28.04. | Kinostarts der Woche

  1. Die Odyssee
  2. Final Account
  3. Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

Die Odyssee

  1. April, 1 Std. 24 Min.

Flucht nach vorne

Als hätte Chagall die Nachrichten gesehen und dann einen Trickfilm geträumt. „Die Odyssee“ ist märchenhaft, aber modern. Und eine echte Augenweide.

Es gibt Produktionen, denen muss man manchmal ein bisschen die Tür aufhalten. Wer nämlich bloß eine Inhaltsangabe dieses Films liest, winkt unter Umständen schnell ab. Ein unschönes Thema, ein Drama nah an der Wirklichkeit, möglicherweise ein echter Downer. So etwas guckt man sich an wie eine Strafarbeit oder vielleicht höchstens noch, um sich zu beweisen, dass man nicht wegsieht. Und es stimmt ja auch: „Die Odyssee“ handelt von zwei Kindern, die auf der Flucht vor einem Krieg und größtenteils auf sich allein gestellt durch einen halben Kontinent streifen. Überall lauern Gefahren und zwielichtige Gestalten, und das Ende der Geschichte ist bestenfalls ungewiss, ganz wie in der Realität. Womit man wieder am Anfang wäre: Warum soll man sich einen animierten Spielfilm zu einem Thema ansehen, das gerade eh fast die ganze Nachrichtenlage bestimmt? Es ist eine Frage, die sich Regisseurin Florence Miailhe vor zehn Jahren sicher auch schon gestellt hat. Damals nahm die Produktion des aufwendig illustrierten Films ihren Anfang, und auch damals schon war das Thema zeitlos aktuell. Weil irgendwo immer Krieg herrscht und Unschuldige unter die Räder kommen, tragen die Schauplätze in „Die Odyssee“ genau wie die beteiligten Konfliktparteien Fantasienamen, die sich keiner realen Auseinandersetzung zuordnen lassen. Dadurch verstärkt sich der beabsichtigte Effekt, die Erzählung wie ein Märchen wirken zu lassen – inklusive der dazugehörigen Albtraumlogik, bei der das nächste moderne Hexenhäuschen hinter jeder Ecke lauern kann. Mit seinen beiden jugendlichen Helden und ihren Abenteuern in einer unvertrauten Umgebung orientiert sich „Die Odyssee“ klar an einer kindlichen Erlebniswelt; nicht zuletzt ist es auch ein kindliches Publikum, das der Film anvisiert. Die Animation ist allerdings auch für Erwachsene eine Offenbarung: 120.000 Bilder in Handarbeit, Öl auf Glas, ein Spektakel der Farben und ein dynamischer Malstil, der poetisch-romantisch anmutet, ohne nur einen Hauch von Putzigkeit zu haben. 84 Minuten dauert die französisch-deutsch-tschechische Co-Produktion, für die in verschiedenen Studios mit dreistöckigen Glastischen gearbeitet wurde. Das Resultat ist einer von diesen Filmen, bei denen man mit einer Inhaltsangabe nicht weit kommt, und für den man manchmal eben ein bisschen die Tür aufhalten muss. Anders als bei vielen Blockbuster-Enttäuschungen bereut man hinterher aber auch nicht, ihn gesehen zu haben.

Markus Hockenbrink

Fazit
Es gibt eine Filmsprache, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen verstehen, und die trotzdem vor keinem Thema zurückschrecken muss. „Die Odyssee“ ist ein modernes Kunstmärchen über Flucht und Vertreibung, das ohne Sensationslust und emotionale Erpressung auskommt. Dafür beeindruckt die innovative Animationstechnik von Regisseurin Florence Miailhe umso nachhaltiger. Sie sorgt für eine seltene, intuitiv wirkende Synthese aus erzählerischer Form, visuellem Stil und traumwandlerischem Tempo.


Final Account

  1. April, 1 Std. 35 Min.

Weil seit dem Ende des Hitler-Regimes mittlerweile mehr als 75 Jahre vergangen sind, werden die lebenden Zeitzeugen immer weniger. Der britische Filmemacher Luke Holland, dessen Großeltern in einem Konzentrationslager ermordet wurden, begann 2008, diese Stimmen für die Nachwelt zu sichern und über 300 Interviews mit ehemaligen Mitgliedern der SS, Wehrmachtsangehörigen und Zivilisten zu führen. Verbunden mit überwiegend privaten Foto- und Filmaufnahmen versucht die Dokumentation, die Fragen sowohl nach der individuellen als auch der kollektiven Schuld zu klären. Während einige der Befragten keinerlei Reue empfinden, verspüren andere Protagonisten Scham ob der begangenen NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die aufschlussreichen Interviews zeigen dabei eine durch die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten verführte und verblendete Generation, richten sich aber auch an uns: Wie hätten wir damals gehandelt? Denn Regisseur Holland ist sich sicher: „Täter werden nicht geboren, sondern gemacht.“

Dirk Hartmann


Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush
28.April, 1 Std. 40 Min.

Murat, komm essen!

Erstaunlich witzig und kulinarisch üppig: Andreas Dresen verfilmt die Geschichte des Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz aus der Perspektive seiner Mutter.

„Heimat ist da, wo es gutes Essen gibt!“ Guantanamo klingt in Rabiye Kurnaz‘ Ohren gar nicht danach. Wo ist das überhaupt? Warum ist ihr 20-jähriger Sohn Murat dort? Und kriegt er da wenigstens genug zu essen? Was 2022 nach sehr naiven Fragen klingt, hatte 2002 durchaus seine Berechtigung. Kaum jemand weiß von dem US-Marinestützpunkt auf Kuba, noch weniger ahnen, dass auf diesem Gebiet ein komplett rechtsfreies Internierungslager errichtet worden ist. Murat Kurnaz sitzt dort ab Januar 2002 die nächsten viereinhalb Jahre unter unmenschlichen Umständen fest. Niemand weiß, warum – bis heute nicht. „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ erzählt jedoch nicht die Geschichte von Murat, sondern die seiner Mutter, ihrem Anwalt, dem Präsidenten und dessen Gerichtshof. Eine klassische David-gegen-Goliath-Story also, wie sie Hollywood seit dem Oscar für Julia Roberts als „Erin Brockovich“ immer wieder auf die Leinwand bringt. Das deutsche Filmschaffen hinkte da bislang hinterher. Mit diesem Film gelingt Regisseur Andreas Dresen in Tateinheit mit seiner angestammten Drehbuchautorin Laila Stieler („Wolke 9“, „Gundermann“) jedoch der große Sprung nach vorn. Das liegt zum einen am Humor und dem Optimismus, den die türkische Mutter in ihrer Bremer Küche an den Tag legt. Rabiye steckt all ihre Hoffnung auf Murats baldige Heimkehr in die Speisen, die sie für Anwalt Docke (Alexander Scheer) und seine Kanzlei kocht. Dafür schenkt ihr Stieler auf der Script-Ebene ein paar emotionale Apfelkuchen-Momente, aber auch die tiefe Tragik von angebranntem Reis. Zum anderen kann sich Dresen nun der Entdeckung von TV-Comedienne Meltem Kaptan für die große Leinwand rühmen. Naiv, warm und laut mit einer Prise Spitzfindigkeit à la Trude Herr schwingt sich Kaptan leichtfüßig durch die Dialoge in drei Sprachen – Deutsch, Türkisch und in den Szenen in Washington vor dem Supreme Court auch Englisch. Die beiden Silbernen Bären bei der diesjährigen Berlinale für Meltem Kaptan und Laila Stieler (Hauptdarstellung und Drehbuch) sind mehr als gerechtfertigt. Happy End also für Mutter und Sohn Kurnaz? Nicht ganz, eine Entschuldigung der deutschen Politik, insbesondere vom damaligen Chef des Bundeskanzleramts und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier für die halbherzigen Verhandlungen und daraus resultierenden Fehlentscheidungen um Murats Freilassung, würde der Familie viel bedeuten. Auch heute noch.

Edda Bauer

Fazit
Regisseur Andreas Dresen ist ein Meister der Charakterzeichnung. Nach dem Liedermacher-Porträt „Gundermann“ inszeniert er nun mit „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ den Gang einer Bremer Hausfrau durch die Instanzen bis zum US-amerikanischen Supreme Court, um ihren Sohn Murat aus Guantanamo freizubekommen. Rasant, multilingual und hoch politisch avancierte der Film zum Jury- und Publikumsliebling der diesjährigen Berlinale, mit Bären fürs Drehbuch und die turbulente Darstellung von Meltem Kaptan.


Foto: Die Odyssee/Grandfilm