Musik

28.02. | Album der Woche

Agnes Obel • Myopia

Deutsche Grammophon

Agnes Obel
Myopia
Deutsche Grammophon– 21.02.

Die Reise ins Ich

Auf ihrem neuen Album „Myopia“ begleitet sich Agnes Obel selbst bei der Suche nach den Grenzen des menschlichen Bewusstseins. Glücklicherweise verfügt die dänische Songwriterin und Pianistin über die musikalischen Mittel, ihr eher abstraktes Thema fesselnd zu präsentieren. Abwechselnd fordernd und intim, ist die neue Platte ein Elixir gegen hartnäckige Nachtmahre und krause Gedanken.

„Kennst du Lars von Triers Film ‚Europa’?“, fragt Agnes Obel. „Er spielt an Bord eines Schlafwagenzuges namens Zentropa und beginnt mit einem Blick aus dem Lokführerstand. Dazu hört man Max von Sydow im Stile eines Hypnotiseurs reden. Es ist ein alptraumhaftes Szenario, aber es schlägt den Zuschauer in seinen Bann. Und das gefällt mir. Mein Publikum tiefer und tiefer in mein und in sein eigenes Bewusstsein hineinzuführen, ist nämlich auch meine Absicht.“ Die Musikerin hat keine Angst davor, was sie bei dieser Tauchfahrt finden könnte, denn die Beschäftigung mit Verborgenheit und Hüllenlosigkeit zieht sich durch ihre ganze bisherige Karriere. Ihr letztes Album „Citizen Of Glass“ hatte eine ganz ähnliche Vorliebe für das Häuten der Zwiebel. „Es handelte davon, wie die moderne Technologie unsere Wahrnehmung verzerrt“, sagt sie. „Soziale Medien verändern unseren Umgang miteinander und machen uns in vielerlei Hinsicht transparent. Ich habe das Gefühl, dass wir uns so zu Selbstenthüllungen gedrängt fühlen und zu Autobiographen unseres eigenen Lebens werden.“ Aus diesem Gedanken entstand dann wiederum die Überlegung, dass nicht nur die Technologie die Sicht auf die Dinge verzerrt, sondern auch das eigene Bewusstsein. „Selbst die Welt, die man objektiv zu betrachten meint, wird durch die eigene Wahrnehmung gefiltert“, sagt Obel. „In gewisser Weise betrachtet man immer noch sich selbst. Das verändert die Geschichte, die man sich von sich selber erzählt. Und das wiederum bedeutet, dass man der eigenen Wahrnehmung selbst dann nicht trauen kann, wenn man zum Beispiel in seinen Erinnerungen blättert.“
Womit wir beim aktuellen Album „Myopia“ wären. Myopia bedeutet so viel wie Kurzsichtigkeit, gerne auch in der Bedeutung von Engstirnigkeit oder Ichbezogenheit, und kreist um die Frage, ob und inwiefern man sich überhaupt selbst kennen kann. Und weil diese Frage von Agnel Obel gestellt wird, verspricht die Antwort nicht einfach, aber dafür spannend zu sein. Englisch muss man dafür auch nicht können, denn je nach Stimmung liefert einen schon die atmosphärisch an- und abschwellende und elegant orchestrierte Klaviermusik einem Tumult widerstrebender Gefühle aus. „Ich mag es, wenn Musik bei jedem Hören etwas Neues mit einem macht“, sagt die Sängerin. „Jeder Song hat einen eigenen Bewusstseinszustand, eine inhärente Logik. Ich wünsche mir, dass die Hörer in diese Logik eintauchen, weil ich in diesen Songs ein lebendiges und fesselndes Universum erschaffen möchte.“ Auch wenn sich die Reise in dieses Universum für den uninitiierten Hörer durch die Musik vermittelt, liegt der Schlüssel zum emotionalen Kern in den opaken Texten der Sängerin. „Wenn ich auf meine alten Songs blicke, kann ich immer wieder das Hinterfragen des Selbst entdecken“, sagt sie. „Das scheint so etwas wie meine Achillesferse zu sein.“ Bestes Beispiel ist der Song „Broken Sleep“, eine Meditation über die Schlaflosigkeit, die das Vier-Uhr-morgens-Gefühl nah ans Ohr des Hörers rückt. „‚Broken Sleep’ handelt davon, wie rastlose Gedanken selbst natürliche Dinge wie das Schlafbedürfnis torpedieren können. Man möchte schlafen, aber die Gedanken stehen nicht still. Es ist eine Schlaflosigkeit, die irgendwann ihrerseits in der Angst vor Schlaflosigkeit mündet. Es ist das nervtötende Wesen des Bewusstseins.“ Die Möglichkeit, sich kreativ mit solchen labyrinthischen Themen zu befassen und sie mit einem Publikum zu teilen, ist für Agnes Obel einerseits ein willkommenes Ventil, andererseits nicht unbedingt eine seelische Entlastung. „Ich glaube, hier ist ein Paradox am Werk“, sagt sie und lacht. „Als Künstlerin muss ich mich auf meine Gedankenwelt konzentrieren, um arbeiten zu können. Ich arbeite schließlich mit meiner Vorstellungskraft, und bin dabei auch durchaus getrieben. Andererseits stellt sich die Frage, ob man dabei auch zu weit gehen kann. Schließlich ist es irgendwo ja auch eine absurde Situation, sein Innerstes zu benutzen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich weiß, dass viele das tun, aber ich weiß trotzdem nicht, ob das so gesund ist.“ Lars von Trier würde womöglich zustimmen.


Fazit:
Die Zeit, die man für Agnes Obel mitbringen muss, nimmt sich „Myopia“ schon selbst. Das Album ist ein intimes Zwiegespräch zwischen der Sängerin und ihrer Gedankenwelt geworden, bei dem man zum heimlichen Mithören eingeladen wird. Die Musik dazu pendelt zwischen stürmisch und sacht und lebt von der beinahe cineastischen Dynamik, mit der die Multiinstrumentalistin zu Werke geht. Ein modernes Meisterwerk auf der Grenze von Folk und Klassik.

Foto: © Alex Bruel Flagsted

Markus Hockenbrink