Literatur

27.11. | Buch der Woche

Timothy Snyder • Über Freiheit

C.H. Beck

27.11. | Buch der Woche - Timothy Snyder  •  Über Freiheit

Wem die Glocke schlägt

Der Yale-Professor Timothy Snyder hat zuletzt erhellende Bücher über das Virus des Populismus und die Verführungskraft totalitärer Regime geschrieben. Jetzt widmet er sich dem Gegenteil: der Freiheit.

»Wir hören viel von Freiheit reden, aber wissen wir auch, wovon wir da reden?« Diese bedenkenswerte Frage, die dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj zugeschrieben wird, ziert den Buchrücken des neuen Werks von Timothy Snyder. Und sie begleitet den Autor über 300 Seiten hinweg, die von »sadopopulistischen Demagogen« wie Donald Trump oder Wladimir Putin handeln, von digitalen Oligarchen im Silicon Valley, dem Tod der Wahrheit auf Social Media – oder von Strafgefangenen in einem Hochsicherheitsgefängnis in Connecticut. Freiheit ist ein weites Feld. Und ein Begriff, der zur Legendenbildung einlädt. Das zeigt Yale-Professor Snyder in seinem Buch am Beispiel einer Jubiläums-Briefmarke von 1976, die nahelegte, die berühmte »Liberty Bell« in Philadelphia sei anno 1776 zur Verkündung der Unabhängigkeitserklärung geläutet worden. Das stimmt nicht, und die Glocke erhielt ihren Namen auch erst im 19. Jahrhundert – von den Gegnern der Sklaverei. Freiheit und Unfreiheit, auch das ist eine Erkenntnis aus Snyders Buch, liegen historisch betrachtet stets nahe beieinander. Was der Autor als Lektion für die Gegenwart begreift.

Timothy Snyder zählt zu den populärsten Intellektuellen der USA, auf X folgen ihm über eine halbe Million Menschen. Der Geschichtswissenschaftler hat viele Jahre in Mittel- und Osteuropa verbracht, ein Land nach dem anderen kennengelernt und Dissidenten wie Václav Havel getroffen. Systeme der Unterdrückung und der Kampf gegen sie sind Snyders Spezialgebiet. Zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten gehört unter anderem »Bloodlands«: ein Buch, in dem er die Zeit in den 1930er und 1940er Jahren beschreibt, in der bis zu 14 Millionen Menschen auf die eine oder andere Art durch Hitler und Stalin umkamen – wobei besonders die Ukraine zum Massengrab wurde. Dass sich dort im 21. Jahrhundert wieder ein Krieg ereignet, hätte auch Snyder sich nicht träumen lassen. Immer wieder zieht es den Autor (in seinem Buch und als Reisender) in die Ukraine zurück, wo er den Konflikt zwischen Freiheit und Unfreiheit in brutalster Form erlebt. Wie in Posad Pokrovs'ke, einem Dorf in der Südukraine, das beim ersten russischen Vorstoß völlig zerstört wurde, dessen Bewohner aber zurückgekehrt sind, um so gut wie möglich in den Trümmern zu leben. In seinen Augen gibt es keinen Zweifel daran, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen muss, damit die USA auch in einem halben Jahrhundert noch »das Land der Freien« sein können – bei einem Erfolg Putins befürchtet Snyder einen Dominoeffekt mit verheerenden Folgen für die ganze Welt. Schon 2017 hat er in seinem Buch »On Tyranny« 20 Lektionen vorgelegt, die aus seiner eingehenden Untersuchung totalitärer Regime in Europa im vergangenen Jahrhundert abgeleitet waren – verbunden mit der Frage, wie sie auf die USA in diesem Jahrhundert zutreffen könnten. 2018 folgte mit »The Road to Unfreedom« eine erhellende Analyse, wie Putins Krieg gegen die Wahrheit als globaler Virus gesät, von den Tech-Oligarchen des Silicon Valley forciert und von den Populisten im Weißen Haus, in der Downing Street und anderswo genutzt wurde. Angesichts der Aussicht auf eine weitere Amtszeit Trumps bündelt Snyder hier all seine düsteren Befunde der vergangenen Jahre – und legt ein drängendes Plädoyer für das vor, wofür es sich zu kämpfen lohnt: »Wenn ich das Schlimmste beschreiben kann«, so sein Ansatz, »kann ich dann nicht auch das Beste beschreiben?«

Timothy Snyder
Über Freiheit

übersetzt von Andreas Wirthensohn
C.H. Beck / 410 Seiten / 29,90 €

Patrick Wildermann