Musik
27.11. | Album der Woche
Michael Wollny • Mondenkind
ACTMICHAEL WOLLNY
Mondenkind
ACT • 25. September
Allein in Berlin
Soziale Isolierung at its best: Der Jazzpianist Michael Wollny hat während des Lockdowns ein hochkonzentriertes Solo-Album aufgenommen.
Michael Wollny, wir sind ein wenig überfordert
mit den vielen historischen und kulturellen
Referenzen auf Ihrem neuen Solo-
Album. Neben zahlreichen Coverversionen
geben Sie mit den Songtiteln Hinweise auf
Shakespeare, H. P. Lovecraft und Gruselmythen
aus dem 19. Jahrhundert. Wie kam es
dazu?
Ich habe eine lange Liste mit evokativen Fragen
oder Begriffen, die sich schließlich irgendwann
mit einem Song oder einer Improvisation
verbinden. Die sagen mir dann: Das funktioniert
jetzt so. Aber das aktuelle Album war nie
konzeptionell, sondern musikalisch gedacht.
In diesem Fall ist es ein Mix aus geschriebenen
Stücken und freien Improvisationen, die erst
hinterher einen Titel bekommen haben. Ich
habe nicht hinterfragt, warum mich ein Titel anspricht.
So ist »Enter Three Witches« eigentlich
eine Regieanweisung aus »Macbeth«, es ist kein
Text, sondern bereitet nur auf die nächste Szene
vor. Das hat mich gereizt.
Auf » Mondenkind « sind nur Sie am Flügel
zu hören, aufgenommen Ende April, in einer
Zeit, in der man ohnehin zur Vereinzelung
aufgerufen wurde. Ein Zufall?
Nein, das Soloalbum war schon geplant, bevor
sich dieses Jahr so entwickelt hat. Dann wurde es aber zwingend, denn für eine Band hätte
man das Studio gar nicht öffnen können. Ich
hatte mir ohnehin eine Auszeit ohne Konzerte
verordnet, aber das Thema »Alleinsein« ist dann
noch viel größer geworden. Wenn man nach
dem ersten Aufnahmetag abends als einziger
Gast im Hotel sitzt und auch in den Straßen von
Berlin zuvor fast niemanden gesehen hat – das
ist schon merkwürdig. Und wenn man alleine in
einem fensterlosen Raum mit nur zwei Scheinwerfern
sitzt, in einem Studio als Raumkapsel,
stellt sich ein Gefühl ein: Jetzt gehen alle Antennen
auf. So habe ich eine Verbindung zur Akustik
und zum Raum bekommen, und zu dem, was
dort entstanden ist.
Neben Pop von Tori Amos und Sufjan Stevens
covern Sie auch eine etwas schräge Sonatine
von Rudolf Hindemith. Was reizte Sie
daran?
Ich finde sie hochmelodisch und harmonisch.
Aber es ist eine seltsame Tonsprache. Hindemith
selbst war in den 20er-Jahren ziemlich schräg.
Er hatte eine Affinität zum Jazz und zur Tanzmusik
seiner Zeit und war immer entgegen der
Jahreszeit gekleidet. Solche Musik ist Reibungsmaterial.
Für mich ist sie stimmig, obwohl sie
so merkwürdig ist. Ich fand es spaßig, dazu zu
improvisieren.
Fazit:
Das »Mondenkind« ist
nicht er selbst, sondern eine
Figur von Michael Ende. Nach
erfolgreichen Alben im Trio und
Quartett zeigt Michael Wollny
nun seine introspektive Seite.
Sein neues Solo-Piano-Album
ist leise, empfindsam und lyrisch,
aber auch rätselhaft und aufbrausend.
Kein süßlicher Neoklassik-
Milchkaffee, sondern ein
komplexes Gebräu, das bewusst
genossen werden sollte. 15 anspruchsvolle
Stücke zwischen
Jazz, Klassik und Pop.
Foto: Jörg Steinmetz
Jan Paersch