Musik

27.08. | Album der Woche

Yann Tiersen • Kerber

Mute

Du bist, wo du lebst

Yann Tiersen muss man sich als einen liebenswürdigen Vollchaoten vorstellen. Der erste angedachte Telefontermin fiel flach, da der 51-Jährige sein Handy verlegt hatte. Am nächsten Tag gab er eine falsche Nummer weiter, so dass man eine unbescholtene französische Familie beim Abendessen störte. Der dritte Versuch sitzt aber.

Yann Tiersen, schön, dass wir es noch hinbekommen haben. Wo erreiche ich Sie denn gerade?
Ich mache derzeit eine Fahrradtour auf dem bretonischen Festland, wir sind heute in der Nähe von Brest unterwegs. Eine Woche lang radeln wir mit Freunden durch die herrliche Landschaft hier.

Von der Landschaft, wenngleich jener auf der Insel Ouessant, gut 20 Kilometer vor der bretonischen Küste im Atlantik, auf der Sie seit 1997 leben, soll auch Ihr neues Album „Kerber“ stark beeinflusst sein.
Das möchte ich präzisieren. Es ist weniger die Umgebung als solche, die mich inspiriert hat, sondern die Gegenüberstellung von konkreten Orten auf der Insel und meiner Musik. Ich wollte eine Art musikalischer Landkarte der Gegend, in der ich lebe, zeichnen und mich auf diese Weise im wörtlichen Sinne erden.

„Kerber“ zum Beispiel ist der Name einer Kapelle auf Ouessant.
Genau. Ich denke, in der heutigen Zeit ist es wichtiger denn je, seine Umgebung zu kennen, zu mögen und sich verbunden zu fühlen mit dem Platz, an dem man zuhause ist. Mir war es wichtig, und es ist eben mein künstlerisches Ausdrucksmittel, meine kleine Welt musikalisch zu markieren.

Warum ist Ihnen das so wichtig?
Du musst wissen, wo du lebst, um zu wissen, wer du bist. Zu verstehen, was die Natur um uns herum uns mitteilen will, ist der einzige Weg für uns Menschen, um nicht nur zu überleben, sondern unser Dasein in Harmonie und Frieden mit der gesamten Schöpfung zu verbringen. So viel läuft falsch in unserer Gesellschaft. Der Konsumwahn zum Beispiel ist einfach nur brutal dumm. Wir müssen uns wieder neu mit der Erde verbinden, die Fenster öffnen, nach draußen gehen und ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass alles sterben wird, wenn wir nichts dagegen tun.

In Deutschland haben wir kürzlich eine Jahrhundertflut erlebt. Wie hat sich das Klima auf Ihrer Insel verändert, seit Sie dort sind?
Wir leben mitten im Meer am Golfstrom. In Ouessant sind es im Sommer meist nicht deutlich über 20 Grad, aber hier auf dem Festland, da kocht die Luft. Heute waren es über 35 Grad. Das kenne ich aus der Bretagne so nicht. Was mir in diesem Jahr noch aufgefallen ist: Das Verschwinden der Insekten. An der Autoscheibe klebt fast nichts mehr, und normalerweise habe ich im Sommer immer Mückenstiche. In diesem noch keinen einzigen.

Flut, Hitzewelle, Virus. Rächt sich die Natur am Menschen?
Nein, sie meint es nicht böse. Natur ist nun einmal hart und gnadenlos. Sie reguliert sich selbst. Wenn die Erde nur ohne Menschen überleben kann, dann wird sie das tun.

So ein abgeschiedenes Inselchen ist wahrscheinlich kein schlechter Ort, um eine globale Seuche auszusitzen, oder?
Wir hatten es schon gut. Okay, auch bei uns waren die wenigen Bars geschlossen, das war hart. Ansonsten lief das Leben eigentlich so wie immer. Corona hatte ich mir allerdings trotzdem eingefangen.

Wünschen Sie sich manchmal, näher an einer Stadt zu leben?
Ich liebe Städte, aber in der Stadt zu leben, ist beinahe unmöglich. Man hat kaum Platz, alles ist künstlich, und man kann sich sein Essen nicht selbst anbauen.

Auf dem Album „Portrait“ haben Sie vor zwei Jahren Ihre alten Stücke neu interpretiert. War das ein Abschluss oder ein neuer Anfang?
Es war beides zugleich. Und „Kerber“ verhält sich im Grunde genauso. Ich komme ursprünglich von der elektronischen Musik, „Kerber“ ist meine Rückkehr dorthin. Das Piano ist auf diesem Album präsent, aber es ist nicht das Zentrum. Im Mittelpunkt steht der elektronische Aspekt, an dem ich drei Monate praktisch ununterbrochen im Studio gearbeitet habe, indem ich Sounds kreierte, verfremdete, auseinanderbaute und in anderem Kontext wieder zusammenpuzzelte. Das alles war ein beruhigender und anregender Vorgang zugleich, man könnte auch sagen: meine Art von Wellness.

Yann Tiersen
Kerber

Mute, 27. August

Der Bretone war immer schon ein versierter Wandler zwischen den stilistischen Welten. Anfangs bekannt als minimalistischer Avantgarde-Komponist, erreichte Yann Tiersen mit seinem zugänglichen Soundtrack für „Die fabelhafte Welt der Amélie“ 2001 ein Millionenpublikum. Seitdem hat er es nie verlernt, praktisch mit jedem neuen Album zu überraschen. Auf „Kerber“ verschmilzt Tiersen sein Pianospiel mit mal hypnotischen („Kerdrall“), mal melancholischen („Poull Bojer“) elektronischen Sounds, die Produzent Gareth Jones (Depeche Mode) kongenial bearbeitet hat.


Foto: John Fisher

Steffen Rüth