Musik
27.05. | Album der Woche
Melody Gardot & Philippe Baden Powell • Entre Eux Deux
Decca"Songs zu schreiben ist das Einzige, was Sinn ergibt."
Ob Jazz, Gospel, Swing, Pop oder Folk – Melody Gardot, die schon mit Ella Fitzgerald verglichen wurde, beherrscht all dies mit geschmackvoller Eleganz. Nun veröffentlicht die Sängerin ein intimes Duo-Album mit dem Pianisten Philippe Baden Powell und spricht über Unsicherheit auf der Bühne und das Leben in der Nacht.
Melody Gardot, wo sind Sie zu Hause?
Für uns Musiker ist es praktischer, in Hotels
zu leben. Aber in den letzten Jahren war Paris
immer mein Ausgangspunkt. Das neue Album
haben wir hier in zwei August-Wochen aufgenommen,
mit Blick auf den Eiffelturm. Ihn zu
besteigen – diese Vogelperspektive auf die Stadt
– war fantastisch. So hoch oben zu sein – das
gibt einem das Gefühl, dass die eigenen Probleme
weit unter einem liegen. Wie im Flugzeug.
Ausgerechnet dort in einer Zeit aufnehmen zu
können, in der wir alle drinnen bleiben mussten,
war großartig. Es hat uns von dem Gewicht
all der Dinge um uns herum befreit.
Seitdem im Jahr 2008 Ihr Debüt-Album erschien,
überschlägt sich die Presse mit Lob
für Ihre Stimme. Was bedeutet sie Ihnen
persönlich?
Manchmal überrascht es mich selbst, dass ich
mit ihr nun meinen Lebensunterhalt bestreite.
Ich betrachte mich nicht als besonders gute
Sängerin, ich verfüge über keinerlei Technik.
Mir ist wichtig, was ich fühle. Durch Gesang
übertragen sich Emotionen. Songs zu schreiben
ist das Einzige, was für mich Sinn ergibt – das
hat fast etwas Autistisches. Ich kann mich ausschließlich
auf diese eine Sache konzentrieren.
Der Grat zwischen »Autist« und »Artist« ist
schmal. Nur ein Buchstabe ist anders! Viele
Frauen rufen ihre Freundinnen an, wenn es
ihnen schlecht geht oder gehen einen Kaffee
trinken. Ich dagegen setze mich ans Klavier.
Seit einem schweren Unfall als Teenager sind
Sie extrem licht- und geräuschempfindlich,
waren auf Gehstock und Sonnenbrille angewiesen.
Sie haben Ihrem Leben mit einer
Musiktherapie neuen Sinn gegeben. Wie hat
es sich danach angefühlt, auf einer Bühne zu
stehen?
Ich musste Musik ganz neu kennenlernen,
dabei hat mir vor allem ein Instrument geholfen.
Das Singen steht nicht im Mittelpunkt, es
gehört einfach dazu. Ich empfinde es immer
noch als sehr unangenehm, ohne einen Flügel
auf einer Bühne zu stehen und zu singen. Das
ist wie ein Schlagzeuger ohne Snare Drum. Es
gibt kein Instrument, hinter dem ich mich verstecken
könnte. Ich habe mich oft gefragt: Was
mache ich hier auf der Bühne?
Wie haben Sie Ihre Unsicherheit überwunden?
Ich habe mir Videos von Jacques Brel angeschaut,
in denen er geradezu ins Mikrofon
spuckt. Da fiel mir auf, dass es nicht um die
Technik, sondern um die Story geht. So ist das
in Jazz, Oper und Theater: Du präsentierst etwas
auf visuelle Art, was eigentlich unsichtbar
ist. Was wir in diesen Momenten tun, ist, Menschen
dazu zu bringen, das zu glauben, was wir
singen. Wir starren nicht auf den Boden und
machen hübsche Geräusche. Ich habe hart daran
gearbeitet, ohne Gehstock auftreten zu können,
um meine Hände frei zu haben. Ich hatte
das Glück, ein paar Mal mit Juliette Gréco
auftreten zu dürfen. Sie hat mir viel beigebracht.
Dabei war sie ziemlich still. Ihre Hände wurden
zu einem Werkzeug, um etwas zu transportieren,
das über die Stimme hinausgeht. All
das gab mir die Sicherheit: Ich kann das auch.
Aber ich würde nie einen Catwalk auf und ab
hüpfen wie die Rolling Stones. Heute nicht hinfallen!
Das muss als Ziel reichen. (lacht)
In "Fleurs du Dimanche" singen Sie: "Je
préfère la nuit au jour". Sie sind also eine
Nachteule?
Wir Musiker, oder Künstler generell, arbeiten ja
meistens nachts und schlafen bis mittags. Die
Nacht ist die Zeit, in der du dich außerhalb deines
Selbst findest. Es ist ruhig, besonders in der
Stadt ist das entscheidend. Das ist die Zeit, in
der du besonders gut denken kannst, denn niemand
braucht dich. Die Nacht verlangt nichts
von dir, du bist nicht damit beschäftigt, unnütze
Dinge zu sortieren. Du wirst nicht mit Lärm
und Terminen bombardiert. Meine Nachbarn
denken da sicher anders; ich habe sie während
der Aufnahme des Albums so oft wachgehalten.
Aber niemand hat sich beschwert – die Platte
muss also ganz okay sein.
Melody Gardot & Philippe Baden Powell
Entre Eux Deux
Decca, 20. Mai
Foto: Franco Tettamanti
Jan Paersch