Literatur

26.06. | Buch der Woche

Jens Balzer • Das entfesselte Jahrzehnt: Sound und Geist der 70er Jahre

JENS BALZER Das entfesselte Jahrzehnt: Sound und Geist der 70er

Rowohlt • 432 Seiten • ab 21. Mai

Die Popkultur der Siebziger hat entscheidend beeinflusst, wie wir heute leben. Pop-Journalist Jens Balzers sucht in » Das entfesselte Jahrzehnt « nach den Gründen dafür.

Eigentlich kommt dieses Buch zu früh. Die Retrospektiven zu den 70ern werden erst ab dem kommenden Jahr den Büchermarkt schwemmen. Das Timing könnte trotzdem kaum besser sein, denn im August vor 50 Jahren fand das legendäre Festival in Woodstock statt. Große Versprechungen auf die Zukunft sind damit verbunden. Die nach Freiheit etwa, nach Individualität, einer anderen, freieren Sexualität. Zugleich ist das Festival eine Geschichte des Scheiterns. Die Organisation ungenügend, die Zustände teilweise barbarisch. Schon wenige Monate später – durch den Zwischenfall beim Festival in Altamont und die Morde der Manson Family – ist der Traum der Hippies ausgeträumt. Der Höhe- und Wendepunkt der Hippie-Ära ist eine der beiden Prämissen, mit deren Hilfe Jens Balzer seine Geschichte der Siebziger erzählt. Die zweite ist die Mondlandung. Die findet ebenfalls 1969 statt. Ein letztes Mal verschieben die Amerikaner im Juli des Jahres die final frontier. Seit 1972 war aber kein Mensch mehr auf dem Erdtrabanten. Die Finanzierung der Missionen ist kostspielig, die Symbolkraft der dabei entstehenden Bilder so gering, dass das Interesse an der Raumfahrt bald wieder erlischt. Im folgenden Jahrzehnt, auch das zeigt Balzer, wendet sich gerade die Science Fiction dystopischeren Themen zu.Die Nachwirkungen der beiden Ereignisse und die damit verbundenen Hoffnungen behandelt der Autor in » Das entfesselte Jahrzehnt «. Kenntnisreich betrachtet er dabei alle Komplexe der Popkultur, die in den Siebzigern durchgeschüttelt werden – und deren Nachwirkungen wir bis heute spüren: Es geht um Mode und Comics, um Sexualität und Identitätspolitik, Musik und Technik. Das Besondere ist die Struktur des Textes: Er erinnert an einen Hypertext. Die Querverweise innerhalb des Buches legen sich wie ein Netz darüber, durch das man am liebsten per Mausklick navigieren würde. Diesen Eindruck verstärkt, dass sich Balzer manchmal von einem Thema mitreißen lässt und wie in einem Wikipedia-Artikel weiter ausholt, als es eigentlich nötig wäre. Ein Beispiel dafür ist die Frisur, die David Bowie mit der Erfindung von Ziggy Stardust zur Mode macht. Ihren Ursprüngen geht Balzer bis in die Antike nach, ohne dass es für seine Argumentation notwendig wäre. Andererseits ist es erhellend, wie gerade diese Beispiele Balzers Prämissen im Kleinen widerspiegeln. Demnach lässt sich Bowies Frisur als Zeichen einer freieren Zukunft lesen, während sie bei Paul Mc- Cartney, der Bowie als einer der ersten nacheifert, mit einem konservativen Backlash einhergeht. Aber dieses Ausholen ist wie die falsche Behauptung, Jimi Hendrix hätte in Woodstock seine Gitarre verbrannt, nur ein Detail, das nichts daran ändert, dass » Das entfesselte Jahrzehnt « ein fesselndes Stück Pop-Geschichtsschreibung ist. Das Buch setzt fort, was in den Achtzigern und frühen Neunzigern in der Spex begonnen hat. Auch für dieses Magazin hat Balzer schon geschrieben, und mit diesem Buch untermauert er, dass es in Deutschland mehr Leute bräuchte, die so klug und erhellend aus musik-journalistischer Perspektive über Popkultur schreiben wie er. Florian Schneider