Musik

25.06. | Album der Woche

Jean-Michel Jarre • Amazônia

Columbia

Leise säuselt der Wald

Ein fotografischer Streiter der eine, ein Klangvorreiter der andere – da haben sich zwei Große ihrer jeweiligen Zunft zusammengetan: Jean-Michel Jarre vertont eine Amazonas-Ausstellung des Dokumentarfotografen Sebastião Salgado. Im Interview verrät der Altmeister des sinistren Sounds, wie der Wald zu klingen hat.

Ihr neues Album „Amazônia“ ist als Soundtrack für eine Ausstellung von Sebastião Salgado konzipiert. Wie kam es zu der Kooperation?
Ich kannte seine Arbeit schon lange und war immer ein großer Bewunderer. In meinen Augen ist Sebastião ein wahrer Künstler. Als die Pariser Philharmonie mich für dieses Projekt angefragt hat, war ich daher direkt sehr interessiert. Fotografie und Musik in einer Ausstellung zusammenzubringen, klang für mich nach einer spannenden Herausforderung. Die Musik sollte nicht nur im Hintergrund laufen, sondern auch für sich stehen.

Wie lief die Zusammenarbeit dann ab?
Wir sind oft gemeinsam in mein Studio gegangen, um uns die Musik anzuhören. Vom allerersten Tag an waren wir auf derselben Wellenlänge, was den Aufnahmeort betraf. Sebastião ist ein sehr sensibler Künstler, dem man anmerkt, dass er sehr viel Zeit in der Natur verbracht hat. Dazu braucht man ihm lediglich in die Augen zu schauen.

Was sieht man dann?
Salgado ist kein schlichter dokumentarischer Fotograf, sondern ein echter Künstler: Er beschreibt nicht, sondern schält die Gefühle heraus, die wir im Angesicht der Regenwälder und der ganzen Probleme um sie herum fühlen sollten. Der harte Kontrast aus Schwarz und Weiß existiert in der Natur schlicht nicht – um nur ein Beispiel zu nennen. Insofern ist die Welt, die er zeigt, weit weg von der Realität. Aber die Gefühle, die der Wald in uns heraufbeschwört, sind real. Salgado schafft das mithilfe seiner Technik. Sie ist es, die ihn zu einem derart talentierten Künstler macht.

Wie haben Sie diese Vorlage dann in Musik übersetzt?
Ein Wald birgt sehr viele Geräusche und ist niemals still. Vögel singen, Wind weht durch die Bäume, Menschen singen – all das wild durcheinander. Zusammengenommen bilden diese Sounds einen Teil der globalen Harmonie. In der Ausstellung reisen wir durch den Amazonas und bewegen uns immer weiter. Manche Geräusche erscheinen plötzlich, andere verschwinden wieder. Normalerweise starte ich am Anfang, wenn ich einen Song schreibe, und arbeite mich zum Ende vor. Diesmal war das anders. Ich habe mich verschiedener Elemente bedient: Elektronische und orchestrale Sounds, ethnic Sounds, Geräusche aus der Natur. All das habe ich zusammengemischt, um das Leben im Regenwald abzubilden.

An einigen Stellen erinnert „Amazônia“, mit Verlaub, an die Soundtüftler von Kraftwerk…
Ich erinnere mich noch an den Moment, an dem ich Kraftwerk zum ersten Mal hörte. Ich dachte zuerst, es sei eine Band aus Kalifornien, die so klingen wie die Beach Boys, aber eben mit deutschem Gesang. Das fand ich total cool! Bevor es das Internet gab, waren wir eben alle irgendwie isoliert.

Und was unterscheidet Sie?
Der Unterschied zu Bands wie Kraftwerk ist, dass sie immer eine Art dystopischen Ansatz hinsichtlich Technologie verfolgten. Bei lateinamerikanischer oder französischer Musik steht hingegen die Melodie im Vordergrund. Es kann auch mal düster sein, aber die meisten haben einen impressionistischen Ansatz, der sich auch klassischer Elemente bedient. Das unterscheidet meine Musik und auch die einiger anderer französischer Künstler wie Air oder Daft Punk.

Einige Ihrer Kollegen leiden gerade sehr unter dem Auftrittsverbot aufgrund der Pandemie. Wie sehen Sie die Debatte um die finanzielle Kompensation von Künstlern?
Wir Künstler sollten nicht in eine Zeit zurückkatapultiert werden, in der wir um Geld betteln müssen. Wenn wir die Bedingungen nicht verbessern, werden viele Künstler einen anderen Beruf ausüben müssen. Vor ein paar Wochen hat die britische Regierung zu gesagt: Wenn ihr Künstler nicht überleben könnt, dann müsst ihr den Job wechseln. Viele fahren jetzt für Uber oder arbeiten bei Amazon. Dabei ist Musik so wichtig für uns alle! Wir sollten ihr den Respekt erweisen, den sie verdient.

Jean-Michel Jarre
Amazônia

Columbia, 9. April

75 Millionen Menschen verfolgten zum Jahreswechsel die spektakuläre VR-Performance, die Jean-Michel Jarre in der Kathedrale von Nôtre Dame inszenierte. Sein neuestes Werk ist nicht minder innovativ: „Amazônia“ ist eine immersive Ausstellung, die den Besucher mit mehr als 200 Fotografien und anderen Medien in den brasilianischen Amazonas-Regenwald entführt. Fotograf und Umwelt-Aktivist Sebastião Salgado bereiste die Region sechs Jahre lang und hielt dabei seinen persönlichen Blick auf Wälder, Flüsse, Berge und Menschen fest. Jean-Michel Jarre liefert dazu einen Soundtrack, der knistert, flirrt und pfeift – und tatsächlich Amazonas-Feeling aufkommen lässt.


Foto: Anthony Ghnassia

Johannes Baumstuhl