Literatur

24.11. | Buch der Woche

Jonathan Franzen • Crossroads

Rowohlt

Familie, Fluch, Fatalismus

Wer pure Action erhofft, war bei Jonathan Franzen noch nie richtig. Wer die Großartigkeit des Alltäglichen sucht, findet in „Crossroads“ ein grandioses Meisterwerk.

„Hätte Russ die Nerven eines Testpiloten oder Herzchirurgen gehabt, wäre dies der Moment gewesen, ihr sein Herz auszuschütten und zuzugeben, dass er eine klägliche Ehe führte, zusammengehalten von Gewohnheit, Versprechen und Pflicht. An Marion hatte er auszusetzen, dass sie dick und freudlos war, ihn langweilte, ihm den Schneid nahm. Er wusste nicht, wie er das sagen sollte, ohne wie ein Mistkerl zu klingen.“ Dies ist einer der radikalsten Absätze auf den gut 830 neuen Romanseiten von Jonathan Franzen. Radikal in der Aussage, ungeschönt in der Wortwahl, unnachgiebig in der Aufrichtigkeit, mit der Russ Hildebrandt, evangelischer Pastor in einer liberalen Vorstadtgemeinde um Chicago und zugleich der Patriarch der in „Crossroads“ illustrierten Familie, seine Ehe betrachtet. Es ist damit zugleich der Beweis, wie wenig es im Grunde braucht, um einen Leser über die Länge eines solchen Wälzers vollkommen in den Bann zu ziehen. Denn Jonathan Franzen, von seinem amerikanischen Verlag beschrieben als der „bedeutendste Romancier seiner Generation“, brauchte noch nie viel, um auf überdurchschnittlicher Länge zu begeistern. Keiner seiner bisherigen Romane kam auf unter 800 Seiten ins Ziel, keiner wartete mit einer irre aufregenden Storyline auf. Stattdessen: Zwischenmenschliches, Soziales, Politisches, Alltägliches, ein wenig Naturschutz und Weltrettung, dazu Probleme und Nöte des (amerikanischen) Nachbarn von nebenan, so lakonisch wie dicht aufgeschrieben. Mit „Crossroads“, seinem neuen, sechsten Roman, treibt er dies nun auf die Spitze – und schreibt zugleich erstmals eine fiktionale Geschichte auf, die nicht in der unmittelbaren Gegenwart spielt, sondern vor 50 Jahren. Und zwar im Großen und Ganzen an einem einzigen Tag. Mehr Beiläufigkeit, verdichtet zu einem furiosen Leseereignis, ist kaum vorstellbar. Der besagte Tag ist der Tag vor Weihnachten im Jahr 1971. Wir lernen die Familie Hildebrandt nebst Freunden und Feinden aus einer Vielzahl von Perspektiven kennen – neben Russ und seiner Frau Marion sind es vor allem die drei Kinder Clem, Becky und Perry, die alle so ihre Geheimnisse und Eigenheiten mitbringen. Der eine ist hochbegabt und drauf und dran, sein Schicksal durch Drogenhandel zu verhunzen, die andere war lange Zeit umschwärmter Mittelpunkt der Highschool und droht nun, im Hippiesumpf der Musikkultur jener Zeit abzudriften. Dazwischen die Eltern, gefangen zwischen der Spießigkeit der Nachkriegsjahrzehnte und der Suche nach später Selbstverwirklichung, zwischen religiösem Puritanismus und weltlichen Gelüsten. Es geschieht so viel und doch so wenig auf all diesen Seiten, die man fast wie im Rausch liest, die sich mangels Handlungsdichte zwar niemals als Netflix-Serie anböten, zugleich aber eindringlicher sind, als es eine Serie je sein könnte. Eine Serie nebenbei, die noch lange nicht zu Ende ist. Denn „Crossroads“, so verspricht der Verlag, ist erst der Auftakt zu einer Trilogie über drei Generationen der Familie Hildebrandt. Man darf sich also auf bestimmt 1500 weitere Seiten freuen.

Jonathan Franzen
Crossroads

Rowohlt, 832 Seiten

Sascha Krüger