Kino

23.09. | Kinostarts der Woche

Foto: Neue Visionen


Helden der Wahrscheinlichkeit
Neue Visionen, 23. September

Sollte irgendwann ans Tageslicht kommen, dass das männliche Gemüt weicher, zarter und vor allem verletzlicher ist als das weibliche, kann man dem dänischen Autor und Regisseur Anders Thomas Jensen keinen Vorwurf daraus machen, damit hinterm Berg gehalten zu haben. Seit gut 20 Jahren beschreibt er die Narben auf Männerseelen und die Sprachlosigkeit, mit der sie sich den Weg bahnen. Das ist oft selbstironisch („Blinkende Lichter“), manchmal brutal schwarzhumorig („Adams Äpfel“) oder göttlich skurril („Men & Chicken“), aber auch tiefgründig („Brüder“) und Oscar-prämiert („Heaven“). Auf der Suche nach dem Schuldigen für ein fatales Zugunglück, bei dem die Ehefrau von Berufssoldat Markus ums Leben kommt, gelingt Jensen in „Helden der Wahrscheinlichkeit“ nun ein Dreisatz aus Stochastik, Synchronizität und Schusswaffen, der sich selbst nicht bierernst nimmt – hervorragend typisiert und mit den nötigen Kindheitstraumata versehen durch Jensens Stammbesetzung aus Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas und Nicolas Bro.

Edda Bauer


Mitgefühl – Pflege neu denken
Weltkino, 23. September

Skål, Rita!

Kuchen, Sekt und eine feste Umarmung. „Mitgefühl – Pflege neu denken“ dokumentiert ein Pflegekonzept, das Menschlichkeit vor Medikation stellt.

Demenz bedeutet ein langes Abschiednehmen. Ein trauriges muss es aber nicht sein. Von der Diagnose bis zum Tod vergehen oft Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte. Entscheidend ist, wie der Erkrankte diese Zeit verbringt, wo, und wer ihn dabei umgibt. Der Dokumentarfilm „Mitgefühl – Pflege neu denken“ macht diesbezüglich ein paar Vorschläge, die selbstverständlich scheinen, wären sie nicht so revolutionär. Der Ort, an dem sie entwickelt werden, heißt Dagmarsminde, liegt in Dänemark, ca. 30 Kilometer nördlich von Kopenhagen. In einer umgebauten Tischlerei leben dort elf Menschen mit verschiedenen Arten von schwerer Demenz. Alle Zimmer sind ebenerdig, haben große Fenster, die hinauszeigen auf den Garten, den Wald oder die Weizenfelder drumherum.

In Dagmarsminde weht an diesem Tag die Flagge auf Halbmast, denn Rita ist gestorben. Der geschlossene weiße Sarg, in dem sie liegt, wird für ein Abschiedslied in den großen Gemeinschaftsraum gefahren. Alle singen, ein paar weinen. Dann gibt es Kuchen und Sekt und die Stimmung wird fröhlich. Auf diesem Niveau wird sie für die kommenden 90 Minuten bleiben, dafür sorgen Pflegerin und Gründerin May Bjerre Eiby und ihr Team mit freundlichen Worten, viel Körperkontakt und einer gut sortierten Hausbar. Letzteres können sich die Bewohner leisten, weil sie keine Medikamente nehmen, deren Wirkung durch den Alkohol beeinträchtigt werden könnte. Pillen sind in Dagmarsminde verpönt. Demenz ist ein Sammelbegriff für die altersbedingte Verkalkung des Gehirns. Weil alle Teile betroffen sein können, gleicht keine Demenz der anderen. Der Verlust von Wissen, Erinnerungen und Fähigkeiten, die Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses – all das löst bei den Betroffenen Verwirrung und nicht selten auch Aggression aus. Erschreckend oft heißt in Pflegereinrichtungen die Lösung dafür: medikamentöse Ruhigstellung. Ganz anders in Dagmarsminde, wo die Gefühle und Realitäten der Bewohner nicht nur verbal respektiert und validiert werden, sondern eben auch durch Umarmungen, gemeinsame Erfahrungen in der Natur und das feuchtfröhliche Feiern von Festen, wie sie fallen. Was Regisseurin Louise Detlefsen und ihr Kameramann Per Fredrik Skiöld innerhalb eines Jahres eingefangen haben, wirkt in seiner Idylle manchmal wie der Werbefilm eines skandinavischen Urlaubsressorts für Rentner. „Mitgefühl“ ist ein filmisches Kompliment an die Wiederentdeckung der Menschlichkeit, vor allem in Pflegeeinrichtungen – aber nicht nur.

Fazit:
Regisseurin Louise Detlefsen lässt in die Bilder für sich sprechen. Die erzählen von Natur und Idylle, von Trauer und Verwirrung, aber vor allem von einer Menge Spaß unter den Bewohnern und mit dem Personal. Die Doku „Mitgefühl – Pflege neu denken“ propagiert eine Methode in der Altenpflege, die die Hoffnung auf ein glückliches Leben trotz Demenz hebt.

Edda Bauer


Trans – I Got Life
Mindjazz, 23. September

In ihrem Dokumentarfilm begleiten Doris Metz und Imogen Kimmel sieben Transmenschen, die sich an unterschiedlichen Stellen ihrer Transition befinden. So erzählen unter anderem ein Musiker, ein Eishockey-Trainer, eine Soldatin und eine Teenagerin über ihre persönliche Reise und die damit verbundenen Erlebnisse und Hoffnungen. Eine Transfrau aus Russland hat dabei mit einer besonders harten Lebenswirklichkeit zu kämpfen. Zwischen München, Moskau und San Francisco kommt zudem ein international renommierter Arzt zu Wort, den man auch bei einigen Eingriffen im OP zu sehen bekommt. Die erlittene gesellschaftliche Marginalisierung wird zwar erwähnt, bildet aber nicht das Zentrum des Films. Vielmehr geht es um gesellschaftliche Veränderungen, fluide Geschlechterrollen und die neuen Möglichkeiten in der Medizin, die den ganz unterschiedlichen Protagonist*innen heute zur Verfügung stehen. Das Radikale und zum Teil auch Unausweichliche beleuchtend, ist ein hoffnungsvoller Film mit besonderer Relevanz entstanden.

Lars Backhaus