23.04. | Buch der Woche: Annett Gröschner • Schwebende Lasten
C.H. Beck
Ohne Sentimentalitäten
Das ganz Große im ganz Kleinen: Annett Gröschners neuer formidabler Roman »Schwebende Lasten« besteht darauf, das 20. Jahrhundert entlang einer vermeintlich normalen Frauenbiografie zu schildern.
Hanna Krause ist 26 Jahre alt, Mutter von vier Kindern und wohnhaft im sogenannten Knattergebirge, dem Magdeburger Armenviertel unweit vom Elbstrand. Das Knattergebirge lässt sich heute nur noch auf alten Karten finden, denn das Bombardement im Zweiten Weltkrieg war gründlich genug, fast die gesamte Innenstadt vollkommen zu zerstören. Beim Einsetzen des Romans ist es noch nicht so weit, man schreibt die Dreißigerjahre, und in Hannas kleinem Blumenladen werden zwei Zielgruppen geschäftstüchtig vereint. Und zwar diejenigen, die mit einem hübschen Sträußchen um die Gunst der Bordsteinschwalben werben, und diejenigen, die sich mit einem etwas üppigeren Bouquet bei der Gattin für ihre Ausschweifungen entschuldigen möchten. Eines Tages kreuzt ein Beau in feinem Zwirn auf, der von Hanna Ungewöhnliches verlangt: ein Blumengebinde, nachempfunden dem Gemälde eines holländischen Meisters. 50 Reichsmark gibt es als Vorschuss, Abholung in zwei Wochen zur selben Zeit. Der Kunde taucht nie wieder auf, aber Hanna spürt, dass es da eine Welt außerhalb von Magdeburgs Stadtmauern gibt, von der sie womöglich nie einen Anteil haben wird. Die Episode ist nur eine von unzähligen Anekdoten, die Annett Gröschner plastischer schildert als alles, was man in seinem Leben selbst erleben wird, – aber auch tragischer. Hanna Krause hat sechs Kinder, von denen immerhin vier den Krieg überleben, dazu ein paar Abtreibungen und einen Gatten, der kein fotogener Fels in der Brandung ist, sondern ein Schmalspur-Lebemann, wie man ihn realistischer nicht darstellen könnte. Auch ihre Protagonistin ist keine Heldin der romantischen Art. Hanna Krause, gesegnet und verflucht mit vielen Kindern und ähnlich viel Mutterwitz, durchlebt den Zweiten Weltkrieg und den real existierenden Sozialismus, erst als Blumenverkäuferin, dann als Kranfahrerin im ortsansässigen Grusonwerk, das man gefälligst französisch auszusprechen hat. Zeit für innere Einkehr gibt es in ihrem Leben nicht viel, dafür schreitet das Jahrhundert zu schnell und zu brutal voran, aber gerade dadurch rückt die Autorin der Wirklichkeit näher auf den Pelz als vergleichbare Romane. Ihr Schreibstil ist fast schon protokollarisch, ohne Sentimentalitäten und genau deswegen ergreifender als es die westdeutsche Trümmerliteratur je war. Dafür ist Hanna bei allem die Erste. Die Erste, die ihren Mann beim Arbeiteraufstand von 1953 von der Straße fischt, die erste, die sich genüsslich auf eine rotierende Waschmaschine setzt, die erste, die ohnmächtig registriert, wie sich ihre erwachsenen Töchter von ihr entfernen. Und gleichzeitig merkt man: Das ist kein Einzelschicksal, das ist der aus dem Rhythmus geratene Takt des 20. Jahrhunderts, wo keine Belohnung und kein Happy End auf einen warten. Die Blumen sind später das einzige halbwegs zuverlässige Glück in ihrem Leben, aber auch das ist so flüchtig wie das Leben selbst. Gibt es ein Denkmal für solche Existenzen, die sich nicht im Museum und nicht in der Stadtchronik finden? Annett Gröschner spricht ein großes Ja aus, das sich gleichzeitig von ganz hinten anschleicht. »Schwebende Lasten« ist kein erbaulicher Roman, niemand wird sich beeilen, sich hier die Filmrechte zu sichern. In seiner unprätentiösen und gleichzeitig fulminanten Art schildert er jedoch wahrhaftiger als jede Dokumentation, was es bedeutet, eine ganz normale Frau in einer turbulenten Zeit gewesen zu sein. Man liest, man staunt, man ist nicht mehr ganz man selbst.
Annett Gröschner
Schwebende Lasten
C.H. Beck / 282 Seiten / 26,00 €
Markus Hockenbrink