Literatur

22.12. | Buch der Woche

Rachel Cusk • Der andere Ort

Suhrkamp

Dort drüben

Reflexion und Projektion, Traum und Albtraum und die Freiheit der Kunst verschwimmen im Marschland von Rachel Cusks Briefroman „Der andere Ort“.

Eine junge Mutter wird vom Teufel geritten: Mitten in Paris, in einer kleinen Galerie, entdeckt sie auf einem Gemälde den Ruf der Freiheit und beschließt, ihm zu folgen. Im Zug von Paris ins Irgendwo begegnet sie dem Leibhaftigen dann sogar höchstpersönlich, schwitzend und stinkend fläzt er sich über zwei Sitze und lacht hämisch, während er ein empörend junges Mädchen auf seinem Schoß tätschelt. Von Realität zu Traum, von Traum zu Albtraum, in Rachel Cusks Roman „Der andere Ort“ sind die Übergänge fließend. Das gilt auch für die Protagonistin M und die Autorin, die sie entworfen hat. Seit Cusk 2001 das autobiografische Sachbuch „Über das Mutterwerden“ verfasste und 2012 „Danach. Über Ehe und Trennung“ hinterherschob, ist viel bekannt über ihr Privatleben, ihr Hadern mit der Mutterschaft und die schwierige Scheidung von Jurist und Fotograf Adrian Clarke.

Etwas ähnlich Traumatisches lungert auch bei M im Hintergrund, erzählt sich allmählich mit, während sie ihrem Bekannten Jeffers in einem 200-seitigen Brief berichtet, worum es ihr wirklich geht. Wie sich herausstellt, setzt die eigentliche Geschichte buchstäblich an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit ein. 20 Jahre nach Paris lebt M mit ihrer Tochter Justine und ihrem zweiten Ehemann Tony weitab von jeglicher Zivilisation am Meer. Das Besondere an der Gegend ist zum einen das Marschland, das sich mit den Jahres-, Uhr- und Gezeiten grundlegend verändert. Zum anderen entdecken M und Tony unter viel Gestrüpp und Dünensand ein Cottage, das nach der Renovierung zur temporären Residenz für Schriftsteller und Künstler wird. Unter ihnen auch L, der Maler des Bildes, das einst in Paris bei M den Freiheitsdrang auslöste. „Ich war mit dem, was ich sehen konnte, vertrauter als mit dem Ort, an dem ich mich befand, und daher wusste ich auch, wie es sich anfühlen würde, dort drüben zu sein und herüberzuschauen“, schreibt M an den ominösen Jeffers, der als literarischer Stellvertreter des Lesers all ihre Ausschmückungen und Erklärungen, die eingestandenen Schuldgefühle gegenüber Tochter und Ehemann und die heimlichen Gefühle für den Künstler im Cottage stillschweigend hinnimmt. Projektion und Selbstbetrug brechen sich Bahn und machen den „anderen Ort“ zu einem Ort, an dem wohl jeder schon einmal war, wenn auch nicht gerne.

Neben den biografischen Anleihen hat sich Rachel Cusk vor allem vom Aufenthalt des Schriftstellers D.H. Lawrence in der neu-mexikanischen Künstlerkolonie Tao inspirieren lassen. Was sich dort Mitte der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts zwischen dem Autor und der Mäzenin Mabel Dodge Luhan zugetragen hat, muss ähnlich emotional und spannungsgeladen gewesen sein wie die Beziehung zwischen M und L. Doch wie aufreibend dieser Zwist auch war, Lawrence hat er letztlich dazu inspiriert, „Lady Chatterleys Liebhaber“ zu schreiben, und damit die selbstbestimmte weibliche Sexualität (und den Wildhüter, der sie auslöst) in die Literatur einzuführen. Cusks „anderer Ort“ ist zweifellos weniger skandalös, aber beileibe nicht weniger erhellend.


Rachel Cusk
Der andere Ort

Suhrkamp, 205 Seiten

Edda Bauer