Kino

22.10. | Neustarts der Woche

CORTEX
Warner Bros. • 22. Oktober

Der eine – bürgerlicher Familienvater mit Eigenheim – hat schlimmste Schlafschwierigkeiten und Visionen, der andere – Typ: draufgängerischer Kleinkrimineller – steckt in einer ganz anderen Bredouille. Als ihre Leben sich berühren, verschwimmen plötzlich nicht nur die Grenzen zwischen Traum und Realität. Schon an der minimalsten Plotbeschreibung lässt sich erkennen: Moritz Bleibtreus Regiedebüt »Cortex« ist weder seichte Mainstream-Unterhaltung à la Til Schweiger noch ein typisch spröder, autobiografischer Erstlingsfilm. Stattdessen orientiert sich der Schauspieler, der hier neben Jannis Niewöhner und Nadja Uhl auch gleich selbst die Hauptrolle spielt, lieber an Vorbildern wie Christopher Nolan, was seinem Film ein erfrischendes Selbstbewusstsein verleiht. Den Figuren kommt man vielleicht nicht nah genug. Aber der Stilwille dieser bewusst komplizierten Mischung aus Thriller und Psychodrama ist beeindruckend: selten sieht deutsches Kino so fantastisch aus wie hier.
Patrick Heidmann


REGELN AM BAND, BEI HOHER GESCHWINDIGKEIT
jip film • 22. Oktober

Das Privatvermögen von Clemens Tönnies beläuft sich auf etwa zwei Milliarden Euro. Mit dem Geld könnte man nicht nur alle Schulden des FC Schalke 04 auf einmal bezahlen, sondern die der klammen Stadt Gelsenkirchen gleich mit. Weil im Kapitalismus aber Gewinne privatisiert und Verluste vergesellschaftet werden, ergibt sich eine obszöne Diskrepanz, die nicht nur das Konsumprodukt verbilligt, sondern auch das Leben von Mensch und Tier. »Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit« zeigt einerseits die Lebensbedingungen der osteuropäischen Leiharbeiter, die in Tönnies’ Fleischfabriken arbeiten, andererseits die in unterschiedlichem Tempo verlaufende Politisierung einer Schulklasse, die Bertold Brechts »Heilige Johanna der Schlachthöfe« für ihre Theater-AG inszeniert. Der Dokumentarfilm kommt dabei insofern wenig didaktisch daher, als viel gezeigt, aber wenig erklärt wird. Die Botschaft ist gerade deshalb umso stärker: Wo der Preis jede Entscheidung bedingt, verliert zwangsläufig alles andere an Wert.
Markus Hockenbrink


WINTERREISE
Real Fiction • 22. Oktober

Es ist die Jobbeschreibung eines Schauspielers, sich überzeugend in verschiedene Persönlichkeiten hineinversetzen zu können. Und doch fällt die Rollenauswahl selten so divers aus wie in Bruno Ganz‘ Karriere, dem nach seiner Hitler-Darstellung in »Der Untergang« das Adjektiv »überragend« zugeschrieben wurde und der hier mit seiner letzten Hauptrolle als säkularer Jude Georg Goldsmith überzeugt. »Winterreise« rekonstruiert die Familiengeschichte des bekannten Radio-Moderators Martin Goldsmith, dessen jüdische Eltern dem Holocaust entflohen und ein neues Leben in den USA begannen. Nicht nur Ganz brilliert mit seiner eindrücklichen Darstellung des vom Leben gezeichneten Goldsmith, der sich mit jedem Gespräch zwischen Vater und Sohn sichtlich öffnet. Auch die Regisseure Anders Østergaard und Erzsebet Racz überzeugen mit ihrer Erzählweise, indem sie Gegenwart und Vergangenheit mit dem stetigen Wechselspiel zwischen intimen Dialogszenen und kreativ bearbeitetem Archivmaterial gekonnt zu einem Ganzen verbinden.
Katharina Raskob


Foto: JIP Film