22.10. | Buch der Woche: Lina Schwenk • Blinde Geister

C.H. Beck

22.10. | Buch der Woche - Lina Schwenk • Blinde Geister

Lina Schwenk
Blinde Geister
C.H. Beck • 191 Seiten

Eigentlich hat Olivia Glück: Sie wächst im friedlichen Deutschland der 1950er-Jahre auf. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, es fallen keine Bomben mehr, Nahrungsmittelknappheit und kalte Nächte im Schutzbunker gehören der Vergangenheit an. Trotzdem ist ihr Alltag geprägt von Momenten, die ihr die Kehle zuschnüren: Ihr Sportlehrer brüllt die Klasse an und lässt sie durch improvisierte Schützengräben robben. Ihr Vater Karl, der als Soldat an der Ostfront gekämpft hat, zählt täglich die Konservendosen im Vorratsschrank – für den Fall, dass »die Russen kommen«. Und ihre Mutter Rita schweigt eisern und hat für ihre beiden Töchter nur wenig Wärme über. Ihre ganze Jugend hindurch hat Olivia keine Worte für das stumme Leiden ihrer kriegstraumatisierten Eltern. Stattdessen fragt sie sich, was mit ihr nicht stimmt: Woher rührt ihr Gefühl des Falschseins in der Welt? Wieso sind andere Menschen immer weit weg, selbst wenn sie sich im selben Raum befinden? Und warum liegt sie nachts ständig wach? Lina Schwenk ergründet in ihrem Debütroman »Blinde Geister« auf so eindringliche Weise das Seelenleben der Nachkriegsgeneration, dass man meinen könnte, sie hätte diese Zeit selbst durchgemacht. Tatsächlich ist die Autorin 1989 geboren und hat vor allem in ihrem Beruf als Ärztin mit Menschen zu tun, die den Krieg als Kinder erlebt haben. Schwenks Feingefühl und ihrer Fähigkeit zur Empathie verdanken wir ein fesselndes Buch über Erinnerung und Nähe – und darüber, wie Geschichte in Familien weiterlebt.

Anna Chiara Doil


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