Literatur

22.06. | Buch der Woche

Richard Wright • Der Mann im Untergrund

kein & aber

22.06. | Buch der Woche - Richard Wright • Der Mann im Untergrund

Eine Welt entgleitet

Richard Wrights Roman „Der Mann im Untergrund“ ist eine echte Entdeckung. Immer noch hochaktuell, setzt er sich mit Rassismus und dessen Folgen auseinander.

Wenn die Großmutter ihn mit einem Buch erwischte, warf sie die Bratpfanne nach ihm. Lesen war in den Augen der streng religiösen Adventistin eine Sünde. Vielleicht wurde aus Richard Wright deswegen ein Schriftsteller. In seiner Zeit war er eine der bekanntesten schwarzen Stimmen, beeinflusste jüngere Kollegen wie James Baldwin maßgeblich. Wenn mit „Der Mann im Untergrund“ (übersetzt von Werner Löcher-Lawrence) ein bisher unbekannter Roman von ihm erscheint, ist das ein echtes Ereignis. Inspiriert durch einen Zeitungsartikel über einen Mann, der länger als ein Jahr in der Kanalisation von L. A. lebte und aus einem Bunker heraus Einbrüche beging, schrieb er die Geschichte zwischen seinen beiden bekanntesten Büchern „Native Son“ (1940) und „Black Boy“ (1945). Sein Verlag Harper & Brothers lehnte das Manuskript ab. Die darin geschilderte Polizeigewalt gegen einen Afroamerikaner sollte weiße Leser nicht verstören. Auch war die Mischung aus Realismus und Allegorie, mit der Wright den klassischen schwarzen Roman hinter sich lassen wollte, wohl nicht das, was die Lektoren sich erhofft hatten.

Also kürzte der 1908 auf einer Plantage bei Natchez/Mississippi geborene und 1960 in Paris gestorbene Wright den Text um mehr als die Hälfte. Er ließ die Polizeiszenen weg und machte eine Shortstory daraus, die 1944 erschien. Seine älteste Tochter Julia Wright spürte die ursprüngliche Fassung wieder auf und fand es an der Zeit, sie endlich zu veröffentlichen. In einer Gegenwart, in der Afroamerikaner wie George Floyd oder zuletzt Patrick Lyoya willkürlicher Polizeigewalt zum Opfer fallen, ist sie leider hochaktuell. Erzählt wird von Fred Daniel, der sich an einem Samstagabend mit seinem Wochenlohn auf den Weg nach Hause macht, als eine Polizeistreife ihn aufgreift. Der Schwarze wird beschuldigt, einen Doppelmord begangen zu haben. Unter Folter unterschreibt er ein Schuldgeständnis. In einem unbeobachteten Moment aber entkommt er in die Kanalisation, wo er sich drei Tage herumtreibt. Gräbt sich durch Keller. Raubt einen Tresor und einen Juwelier aus. Tapeziert mit Banknoten unter der Erde die Wände und pflastert mit Diamanten den Boden. Die Welt oben, die ihn zu Unrecht verurteilt hat, entgleitet ihm, er lässt sie hinter sich und fühlt sich erstmals im Leben richtig frei.

Der Anfang des Romans lässt an John Balls „In The Heat Of The Night“ (1965) oder an James Lee Burkes „In The Electric Mist With Confederate Dead“ (1993) denken. Während in diesen aber wilde Verfolgungsjagden beginnen, kippt Wrights Geschichte ins Metaphorische. Mitunter erinnert das an Kafka oder Beckett. Wright findet vielschichtig aufgeladene Bilder für die Emotionen der Afroamerikaner. Er erzählt von einer Welt, in der Hautfarbe alles determiniert. Und davon, was der alltägliche Rassismus mit einem macht. Assoziativ, psychoanalytisch und surreal mutet dieser Roman an, der – vorbildlich ergänzt durch einen Aufsatz Wrights zur Entstehungsgeschichte und ein Nachwort seines Enkels Malcom – jetzt endlich in voller Pracht entdeckt werden kann.

Welf Grombacher