Literatur

21.04. | Buch der Woche

Igor Levit/Florian Zinnecker • Hauskonzert

Hanser

Der dritte Igor

Wer ist Igor Levit? Man wird kaum falsch gehen, wenn man mit der Prämisse startet, dass es zwei Igor Levits gibt. Mindestens.

Da ist zum einen Igor Levit, der „Jahrhundertpianist“. Die Anführungszeichen sind wichtig, denn das Wort – auch das erfahren wir in der Biographie-meets-Tourtagebuch namens „Hauskonzert“ – lässt Igor Levit von seiner Pressefrau bei Interviewfreigaben bis heute konsequent entfernen. Zu anmaßend, zu bedeutungsschwer. Geboren am 10. März 1987 im russischen Gorki, dem heutigen Nischni Nowgorod, bringt ihm seine Mutter bereits als Dreijähriger das Klavierspielen bei. Mit vier Jahren debütiert er als Solist, mit sechs spielt er sein erstes Konzert mit Orchester. 1995 emigriert die Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Fünf Jahre später, da ist er 13, beginnt Igor ein Studium am neugegründeten Institut zur Frühförderung musikalisch Hochbegabter (IFF) der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Nebenbei gibt er Konzerte in Europa, den USA und Israel, macht sich einen Namen in der Klassikszene, bis ihm im Jahr 2010 ein Artikel in der FAZ das ungeliebte Brandmal des „Jahrhundertpianisten“ verpasst. Levit habe „das Zeug dazu, einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts zu werden“, schreibt Eleonore Büning da. „Besser gesagt, er ist es schon.“ Zu lesen war bei Büning auch, Levit sei seit ihrer ersten Begegnung ein paar Jahre zuvor „vom Clown zum Musterknaben“ mutiert. Nicht wenige Beobachter fragen sich nun seit einiger Zeit, ob er nicht inzwischen die Rolle rückwärts gemacht habe. Und das hat mit dem zweiten Igor Levit zu tun: Mit Igor Levit, dem öffentlichen Intellektuellen. Und mit dessen Twitter-Account.

Auf diesem Twitter-Account erschienen in den vergangenen Jahren Nachrichten, die Karriere machten, die also, neudeutsch und scheinbar maximal weit entfernt von der bildungsbürgerlich-gesitteten Klassikwelt, viral gingen und/oder Shitstorms auslösten. Als er 2015 schrieb, AfD-Mitglieder seien „Menschen, die ihr Menschsein verwirkt haben“, erhielt Levit Morddrohungen – allen nachfolgenden Erklärungsversuchen zum Trotz. Auch seine Solo-Konzerte werden bisweilen zu politischen Predigten. Sein Engagement hat Igor Levit jüngst bis in Jan Böhmermanns Satire-Show „ZDF Magazin Royale“ gespült, wo er die antifaschistische Kampfhymne „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ des Deutschrap-Barden Danger Dan auf dem Flügel begleitete.

„Hauskonzert“ möchte nun nichts weniger als die Brücke schlagen zwischen den beiden Igor Levits, denn: „In beinahe allen Texten, Interviews, Podcasts geht es entweder um Igor Levit, den Pianisten, der sich politisch äußert. Oder um Igor Levit, den Twitter-Aktivisten, der im Übrigen auch Klavier spielt. Wäre es nicht an der Zeit zu erzählen, wie beides zusammenhängt, wie es begann und wohin es führt, kurz: warum Igor Levit so klingt, wie er klingt?“ Geschrieben hat dieses Hauskonzert nicht Levit selbst, sondern ZEIT-Journalist Florian Zinnecker, der Levit in den Jahren 2019/20 auf Tournee begleitete, bevor die Pandemie alle Pläne auf den Kopf stellte. Das „Hauskonzert“ ist fluffig geschrieben, fast im Stile knapper Twitter-Posts, inhaltlich naturgemäß näher am Pianisten-Levit als am Twitter-Alter-Ego. Zinnbauer verwebt Anekdotisches mit Konzertberichten und biographischen Details, und wo Igor Erinnerungslücken an die russische Kindheit plagen, da darf die Mutter aushelfen. Und so gelingt dem Hauskonzert, woran alle journalistischen Beobachter zuvor scheiterten: Anstatt das Phänomen Igor Levit mit großen Worten zu analysieren, zeigt Zinnecker einfach und erzählt. In den besten Momenten wird so ein dritter Igor Levit sichtbar: Igor Levit, der Mensch.

Igor Levit und Florian Zinnecker
Hauskonzert

Hanser, 304 Seiten

Johannes Baumstuhl