Literatur

20.11. | Buch der Woche

Sally Rooney • Intermezzo

Claassen

20.11. | Buch der Woche - Sally Rooney •  Intermezzo

Der Anwalt und der Schachspieler

In der berührenden Geschichte zwei ungleicher Brüder im zeitgenössischen Dublin behandelt Rooney große Themen wie Liebe, Glück und Tod mit einfachen Worten und starken Bildern.

Die drei bisherigen Romane von Sally Rooney sind allein in ihrem Herkunftsland Irland und dem Vereinten Königreich über drei Millionen Mal verkauft und in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. Für das 2021 erschienene Werk »Schöne Welt, wo bist du« wurde am Tag der Veröffentlichung ein Pop-up-Store in London errichtet, damit die Buchhandlungen die Käuferschlangen bedienen konnten. Das ist beachtlich, denn die Geschichten drehen sich nicht um Kriminalität in Neo-Noir Ästhetik oder um Harry Potter, sondern um die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen im grauen Alltag der Großstadt oder der irischen Provinz.

In »Intermezzo« erzählt sie von Peter und Ivan, zwei Brüdern, die im Erwachsenalter ihre Verbindung verlieren und sich nach dem Tod ihres krebskranken Vaters gezwungen sehen, wieder einen Weg zueinander zu finden. Peter ist ein arroganter Mittdreißiger, der als Anwalt erfolgreich ist, sonst aber trübselig. Sein Liebesleben irrt zwischen der Collegestudentin und Online-Scammerin Naomi, die sich für Gefälligkeiten von ihm entlohnen lässt und seiner Ex-Freundin Sylvia, die von chronischen Schmerzen geplagt, weder mit noch ohne ihn leben kann. Sein zehn Jahre jüngerer Bruder Ivan ist ein introvertierter Schachspieler, der sich mit prekären digitalen Gelegenheitsjobs über Wasser hält und eine Affäre mit der älteren Margaret beginnt, die sich trotz Widrigkeiten als das emotionale Rückgrat der Geschichte entpuppt. Die Unbeholfenheit, mit der die Brüder sich anzunähern versuchen, um dann doch immer wieder in einem wütenden Moment das geknüpfte Band durchzuschneiden, ist berührend und für jeden nachvollziehbar, der weiß, dass man sich Familien zwar nicht aussucht, die tiefe Beziehung, die sie hinterlassen, aber auch nicht ignorieren kann.

Rooneys Bestsellerqualität zeigt sich in der Gabe, die sie mit klassischen irischen Schriftstellern wie Oscar Wilde oder George Bernard Shaw teilt, komplizierte Beziehungsverhältnisse in Worte zu fassen, die einfach zu verstehen sind. Wenn sie Lebensmüdigkeit als einen Gedanken beschreibt, der ganz ruhig an die Oberfläche steigt, nimmt sie der Resignation in schwierigen Lebensphasen das Drama der Selbstmordgedanken, zollt aber trotzdem dem Gefühl Respekt, dass manchmal einfach alles zu viel werden kann. Die Beschreibung einer misslungenen sexuellen Annäherung zwischen Peter und Sylvia als verdorbener und entwürdigender Moment, der eben noch golden glänzte, ist entwaffnend in seiner Treffsicherheit.

Die Flut ungeordneter Gedanken, die bereits von James Joyce als stream of conciousness kultiviert wurde, schwillt hier nicht zum wilden stilistischen Ritt à la »Ulysses« an, sondern dient den Figuren als Hilfe, sich selbst zu ordnen, während sie im Restaurant auf ihre Begleitung warten oder in einem Bus durch die regnerische irische Landschaft fahren. Die Autorin schreibt nur über das, was sie kennt, sagt sie in Interviews. Selbst Szenen wie der Nasenbruch der Protagonistin ihres Romans »Normale Menschen« geht auf ihre Erfahrung zurück, als sie bei einer längeren Schreibsession vergessen hat, Wasser zu trinken, ohnmächtig wurde und vornüber vom Stuhl fiel, um kurz darauf in einer Blutlache und mit gebrochener Nase aufzuwachen. Obwohl sie aus County Mayo im dünn besiedelten Nordwesten der grünen Insel stammend, sonst nicht viel gesehen hat, wie sie selbst einräumt, erreicht sie durch authentische Nähe immer wieder ein breites Publikum, ganz ohne Verbrechen und Zauberei.

Sally Rooney
Intermezzo

Claassen / 496 Seiten / 24,00€

Miguel Peromingo