Literatur

20.10. | Buch der Woche

Christian Montag • Du gehörst uns!

Blessing · 30. September

Im Netz der Daten

Christian Montag nimmt die Internet-Großkonzerne kritisch unter die Lupe und zeigt auf, mit welchen psychologischen Tricks unser Online-Verhalten manipuliert wird.

Als Mitte des 19. Jahrhunderts mit Erfindung des Telegraphen die Vernetzung der Kontinente begann und somit der Informationsaustausch revolutioniert wurde, konstatierte der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau mit einer gewissen Portion Skepsis, dass womöglich die erste Nachricht aus der Alten Welt in das große amerikanische Schlappohr lauten könnte, Prinzessin Adelheid habe den Keuchhusten. Mittlerweile ist besagter Keuchhusten, der die Information zu einer belanglosen Ware machte, zu einem omnipräsenten Echo geworden und hat einen Großteil der Weltbevölkerung infiziert. Christian Montag, Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm, hat mit „Du gehörst uns!“ ein umfangreiches Buch über die psychologischen Strategien der großen Internetunternehmen wie Facebook, TikTok und Snapchat geschrieben und weist Wege, wie der Nutzer sich vor den manipulativen Tricks aus dem Silicon Valley schützen kann, um einen entspannteren Alltag zu bestreiten. Montag nimmt den Leser mit auf eine packende Wissenschaftsreise in verborgene Welten fernab der Benutzeroberflächen der Apps und Software, um die Mechanismen der modernen Zeitfresser wie Facebook, Instagram und WhatsApp anhand von mannigfaltigen Studienergebnissen und Grafiken anschaulich darzulegen. Seinen Fokus legt Montag auf das Fachgebiet der Psychoinformatik, die den Einfluss von Internet und Smartphones auf Emotionalität, Persönlichkeit und Gesellschaft untersucht. So kann er Phänomene erklären, die bei den Anfängen des Internets ansetzen, als die Beantwortungsdauer einer E-Mail noch der Briefpost gleichsetzt war, und zu heutigen Highspeed-Autodatenbahnen führen, die eine nahezu unverzügliche Reaktionsgeschwindigkeit beim Gegenüber hervorrufen. Ein Hauptproblem dieser Entwicklung liegt an den wechselseitigen Abhängigkeiten aus der enormen Beliebtheit der Social-Media-Angebote mit zirka vier Milliarden Nutzern weltweit, dem Geschäftsmodell aus kostenloser Nutzung gegen Daten und der damit verbundenen Aushöhlung der Privatsphäre. Warum dieser Überwachungskapitalismus so erfolgreich funktioniert, hat Montag genau analysiert. Ein entscheidender Faktor ist das Prinzip der Push-Benachrichtigungen, die uns tagtäglich über Chat-Nachrichten, Eilmeldungen und E-Mails auf dem Startbildschirm oder Desktop informieren und damit um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Gleiches gilt für das Prinzip der Like-Ökonomie und des Farbdesigns einer App. Das Problem: Die vermeintlichen Helfer fragmentieren nicht nur unseren Arbeitsalltag und halten uns zeitlich in ihrem Bann, sondern können auch das psychologische Phänomen des „Fear of Missing Out“ (FOMO) erzeugen, also der Angst, etwas zu verpassen. Menschen, die zu Nervosität, Ängstlichkeit und Reizbarkeit neigen, sind besonders anfällig für FOMO. Ähnliches gilt für das Gebiet der Online-Sucht, vor allem bei Gratisspielen. Montag bedient sich einer verständlichen und lebendigen Erzählsprache und wartet mit fundiertem Wissen auf. Ein Buch, das aufrüttelt, die eigenen Online-Gewohnheiten zu hinterfragen.

Christian Montag
Du gehörst uns!

Blessing, 416 Seiten

Björn Eenboom