Literatur

20.05. | Buch der Woche

Téa Obreht • Herzland

Rowohlt Berlin
Téa Obreht

Herzland

Rowohlt Berlin – 512 Seiten

Der mit dem Kamel tanzt

Normalerweise empfiehlt sich der Wilde Westen zur Glorifizierung robuster Männermythen. Téa Obrehts latent jenseitiger Roman „Herzland“ hat anderes im Sinn.

Das fängt schon mit dem Gesprächspartner an, an den Lurie Mattie seinen laufenden Kommentar richtet. Mattie kommt Mitte des 19. Jahrhunderts von der Levante nach Amerika, heißt eigentlich ganz anders und übt sich als moralisch eher labile Gestalt zunächst einmal in der Kunst des Grabraubes. Wenig später schließt er sich einer Bande von Outlaws an, erschlägt einen Mann und ist von da an auf der Flucht. Immer weiter westwärts, wo die etablierten Bundesstaaten aufhören und die so genannten Territorien beginnen. Hier mag man sich womöglich dem Griff des Gesetzes entziehen, doch dafür lauern andere Gefahren. Indianerüberfälle zum Beispiel, andere Glücksritter oder auch einfach nur die feindselige Landschaft. Seine wahre Berufung findet Mattie eines Tages in einem texanischen Hafen. Dort sind gerade 30 Kamele samt gelernter Reiter angelandet, um im Auftrag des US-Kongresses eine Expedition nach Kalifornien zu unternehmen. Weil die Tiere 500 Kilo tragen können und eine Woche ohne Wasser auskommen, eignen sie sich ideal für die Durchquerung der lebensfeindlichen Wüsten. Der gesuchte Verbrecher reiht sich in die Karawane ein und vertraut seine Geheimnisse von nun an seinem Kamel an. Eins davon ist, dass er ganz augenscheinlich die Wünsche verstorbener Menschen erspüren kann. Bevor das amerikanische „Herzland“ zum Hort konservativer Apfelkuchenwerte verklärt wurde, gehörte es nicht weißen Einwanderern aus Europa, sondern Indianern und Mexikanern. Deren Spuren sind in Téa Obrehts neuem Roman noch so frisch, dass die neue Realität flimmert wie eine Fata Morgana. Es ist ein Land, in dem die Menschen Geistern und Phantomen nachjagen, und in dem naheliegende Bedürfnisse wie Obdach und Trinkwasser seltsam flüchtig wirken. Oft wird für eine solche Stimmungslandschaft der Ausdruck des magischen Realismus verwendet, dabei sucht die Schriftstellerin nur nach einem neuen Weg, das wahre Antlitz des wilden Westens zu beschreiben, ohne auf Revolverhelden-Klischees zurückzugreifen. Streng genommen besteht das Buch aus zwei parallel verlaufenden Geschichten: der in Umrissen wahren Erzählung des berühmten „Camel Corps“ und den 24-Stunden-Erlebnissen einer Siedlerin in Arizona, die sich gegen die Landnahme durch einen rabiaten Viehzüchter zur Wehr setzt. Wer mit den teilweise verblüffend sorgfältig recherchierten Abenteuern von Lucky Luke vertraut ist, kennt die Konflikte im Zentrum von „Herzland“, statt auf parodistischen Humor setzt Obreht allerdings auf die Anziehungskraft des Fantastischen, des Unheimlichen und des Spirituellen. Dahinter steht der Versuch, der Schönheit, aber auch der Brutalität des Grenzgebiets mit einem ähnlich frischen Blick zu begegnen wie die Pioniere, die das Buch bevölkern. Dafür wählt die Autorin eine staunende und poetische Sprache, die sich ebenso wenig festlegen lässt wie die Grenzen des jungen Landes. Und trotzdem sieht man ihn vor sich, den Film, den „Herzland“ abgeben würde, wenn sich jemand des Stoffes annehmen und Bilder für das finden würde, was bei der Lektüre alles im Kopf herumspukt.

Markus Hockenbrink