Literatur

20.04. | Buch der Woche

Oded Galor • The Journey of Humanity

Mensch, wer bist du?

Oded Galors inspirierende Erkundung der Menschheitsgeschichte macht große Lust, neue Zusammenhänge zu entdecken. Und lüftet das Geheimnis von Wohlstand und Ungleichheit.

Schon mal vom Homo denisova gehört? Diese dem Neandertaler ähnlichen Homininen lebten vor etwa 160.000 Jahren in Eurasien. Es sollen außerdem noch mindestens fünf weitere menschliche Spezies auf unserem Planeten existiert haben, bevor er sich durchsetzte, der Homo sapiens, der „weise Mensch“. Ob er seinen Namen zu Recht trägt, ist eine Frage, die seit Jahrhunderten gestellt wird, und sie ist angebracht, denn kein anderes Lebewesen besitzt eine derart große Fähigkeit zur Zerstörung. Fairerweise muss angefügt werden, dass der Mensch, in der Ausgabe, wie sie bis heute vorzufinden ist, auch eine enorme schöpferische Kraft hat. Bisher ist es ihm allerdings nicht gelungen, die Humanität, das ihm ureigenste Ziel, vollkommen zu realisieren, was die Vermutung nahelegt, dass der Homo sapiens „Zwischenstation“ auf dem Weg zu noch vollkommeneren Geschöpfen ist. Dessen war sich Johann Gottfried Herder sicher. Er formulierte diese Überzeugung in seiner Abhandlung „Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit“, die zwischen 1782 und 1788 im Austausch mit Goethe entstand. Mit diesem Mammutwerk wolle er, wie Herder selbst in einem Brief schrieb, „dem Jahrhundert in seinen eigen Tönen ein ander Lied“ vorsingen. Und das scheint nun auch Oded Galor mit „The Journey of Humanity - Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende“ tun zu wollen. Der israelische Wirtschaftswissenschaftler macht einen großen Wurf, indem er die Geschichte der Menschheit von Anbeginn bis heute neu erzählt – und dabei dem Geheimnis von Wohlstand und Ungleichheit auf die Spur kommt. Hier zum Kern: „Erstaunlicherweise fand der sprunghafte Anstieg des Wohlstands, der in den letzten Jahrhunderten zu verzeichnen war, nur in einigen Teilen der Welt statt und löste eine zweite große Transformation aus, die für unsere Spezies einzigartig ist: die Entstehung einer immensen Ungleichheit zwischen den Gesellschaften.“ Galor geht es darum, „in uns allen ein Verständnis für die Maßnahmen zu wecken, die Armut und Ungerechtigkeit lindern.“ Er unterlässt dabei – großer Pluspunkt – jegliches Moralisieren; sein Fazit ist „grundsätzlich hoffnungsvoll“. Natürlich kann dieses Werk, wie viele seiner Vorgänger – unter anderem versuchten sich Platon, Hegel und Marx an menschheitsgeschichtlichen Erzählungen – nicht für sich beanspruchen, der Weisheit letzter Schluss zu sein. Allein: Muss es das? Wichtiger ist, dass es Galor gelingt, mit seiner Freude am Forschen anzustecken. Es macht schlichtweg Spaß, von ihm zu neuen Betrachtungen inspiriert zu werden – man staunt dabei über seine Begabung, große wissenschaftliche Themen zugänglich, fast schon plaudertonhaft zu vermitteln. Obwohl er seinen Schwerpunkt auf Wirtschaftswissenschaft legt und mit Erkenntnissen aus Anthropologie, Geschichte und den Naturwissenschaften ergänzt, handelt es sich auch um ein philosophisches Buch, da es, und dazu gibt es die Philosophie, aus Gewissheiten reißt und den wohltuenden Zweifel nährt. Gemäß dem Gedanken: Es könnte doch alles ganz anders sein, als man bisher dachte.

Oded Galor
The Journey of Humanity

dtv, 384 Seiten

Sylvie-Sophie Schindler