Literatur
18.12. | Buch der Woche
Han Kang • Unmöglicher Abschied
Aufbau
Han Kang
Unmöglicher Abschied
übersetzt von Ki-Hyang Lee
Aufbau, 315 Seiten, 24,00 €
Mit der Erinnerung leben
Die südkoreanische Literaturnobelpreisträgerin Han Kang schreibt in ihrem neuen Roman »Unmöglicher Abschied« über das Grauen der Geschichte und darüber, dass es trotzdem nötig ist, sie aufzuarbeiten.
Als bekannt wurde, dass Han Kang den Nobelpreis für Literatur erhält, wollte ihr Vater in seinem Dorf ein großes Fest veranstalten. Ihr gefiel das gar nicht. Sie wolle nicht im Rampenlicht stehen, es gebe so viel Probleme auf der Welt. »Vielleicht sollten wir die Ruhe bewahren. Das war mein Gedanke und ich habe ihm gesagt, er solle kein Bankett geben.« Den Abend verbrachte sie lieber mit ihrem Sohn bei einer Tasse Kamillentee.
Die Szene charakterisiert die 1970 im südkoreanischen Gwangju geborene Han Kang ganz gut. Immer wieder schreibt sie über menschliche Gewalt. Bücher wie »Die Vegetarierin« (2007) oder »Weiß« (2016) lassen sich geradezu als Variationen darauf lesen. Trotzdem muten sie in ihrer bescheidenen Art mit ihren tastenden Beschreibungen wie Meditationen an. Der aktuelle Roman »Unmöglicher Abschied« macht da keine Ausnahme. Sieben Jahre arbeitete Han Kang an dem Buch, das, im Original 2021 erschienen, jetzt auf Deutsch herauskommt. Es arbeitet die Verhaftungen und Massenhinrichtungen von Kommunisten und mutmaßlicher Sympathisanten vor und während des Korea Krieges (1950-1953) auf und damit ein weiteres Trauma dieses Landes, dessen Geschichte im 20. Jahrhundert an Traumata so reich ist.
Aber wie das typisch ist für Han Kang, bricht sie die historischen Ereignisse auf eine persönliche Ebene herunter und erzählt von zwei Frauen, die den Glauben in die Menschheit verloren haben und mit dem Grauen der Geschichte leben müssen. Gyeongha ist Schriftstellerin und in einer Lebenskrise. Nachdem sie ein Buch über das Massaker in Gwangju geschrieben hat, wo 1980 bei grausam niedergeschlagenen Studenten-Protesten gegen die Militärdiktatur 2000 Menschen ums Leben kamen, glaubte sie den Schmerz abstreifen und die Spuren tilgen zu können. Ein Irrtum. Die Alpträume hören nicht auf. Sie haust in einer Apartmentwohnung in der Nähe von Seoul, hat keine Familie mehr, und keinen Job, als ein Hilferuf ihrer Freundin Inseon sie erreicht. Die liegt nach einem Unfall im Krankenhaus und bittet Gyeongha, schnell in ihr Haus auf der Insel Jeju zu gehen und sich um ihren Papagei zu kümmern, der ohne Futter und Wasser nur noch einen Tag überlebt.
Durch Schnee und Eis kämpft sich Gyeongha mit dem letzten Bus dorthin. Doch der Vogel ist schon tot. »Ich bin zum Sterben hergekommen«, denkt sie sich, wird aber eines Besseren belehrt. Wie Traumprosa muten die Passagen an, in denen Han Kang behutsam und feinlich genau erzählt, wie Gyeongha nicht nur der tote Vogel wieder erscheint, sondern auch Freundin Inseon völlig unversehrt. Sie tauschen sich über ein gemeinsames Erinnerungsprojekt an die Verbrechen während des Korea Krieges aus, sichten Manuskripte und Filmaufnahmen, die den Roman durchsetzen. Bis am Ende Inseons Flamme erlischt.
Mitunter erinnern die Sequenzen an den magischen Realismus von Haruki Murakami. Aber Han Kangs Perspektive ist weiblich. Ihre Sätze sind fragiler, ihre Empfindungen verletzlicher. Schon in ihrem Roman »Menschenwerk« (2014) verarbeitete sie die Gräueltaten von Gwangju, die sie als Kind traumatisierten. Wenn ihr Buch nicht so vielschichtig wäre, ließe es sich als Parabel auf die Erinnerungskultur bezeichnen, die, obwohl eine Last, notwendig ist, um Würde zu wahren. Während Inseon ihren Glauben an das Gute verliert und daran zerbricht, was Menschen anderen Menschen antun können, lebt Gyeongha weiter und hält das Gedenken am Leben. Man darf sicher sein, dass Han Kang beiden Freundinnen ein gutes Stück von sich selbst eingeschrieben hat.
Welf Grombacher