Literatur

18.05. | Buch der Woche

Leila Mottley • Nachtschwärmerin

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18.05. | Buch der Woche - Leila Mottley • Nachtschwärmerin

Opfer sehen sich nicht als Opfer. Kiara sieht sich nicht als Opfer. Sie ist ja freiwillig auf den Strich gegangen, um die Miete für sich und ihren Bruder zahlen zu können. Sie hätte ja ablehnen können, als man sie in einem Polizeirevier in Oakland zur Trophäe bei illegalen Pokerrunden machte. Jetzt ist die Sache aufgeflogen und alle Augen sind auf Kiara gerichtet, die minderjährige Schwarze, von der man sowieso nichts anderes erwartet hat. Nicht mal sie selbst. Der Fall hat sich 2016 im kalifornischen Oakland tatsächlich zugetragen. Leila Mottley beschreibt ihn gänzlich aus der Sicht der schwarzen Kronzeugin im Verfahren gegen gut ein Dutzend weiße Polizisten. In „Nachtschwärmerin“ finden einige der zahlreichen Krisen, die die US-amerikanische Gesellschaft in den vergangenen Jahren erschüttert haben, eine literarische Heimat: Die Armut und Perspektivlosigkeit der Abgehängten, eine parteiische Polizei, die ihre schlechte Ausbildung durch unbedingten Korpsgeist wettzumachen sucht, schließlich und über, unter, zwischen, vor, hinter und neben allem stehend der tiefe, über Jahrzehnte und Jahrhunderte gepflegte Rassismus. Die Spaltung, von der in den vergangenen Jahren auch hierzulande zu lesen war, reicht hier von der Gesellschaft bis in die einzelnen Körper und Seelen der Protagonisten. Black Lives Matter, klar, aber gilt das auch auf dem Polizeirevier, gilt es auch vor Gericht – zumal, wenn die Zeugin minderjährig, also noch ein Mädchen und, für die Polizisten, lediglich ein willenloser Gebrauchsgegenstand ist? Mottley drängt sich mit diesen Themen und Fragen nicht auf, ihre Sprache ist so zurückhaltend und poetisch, dass man kaum glauben mag, dass „Nachtschwärmerin“ ihr Debütroman ist. Mit dem Schreiben begann sie, als sie selbst noch eine 17-jährige Jugendliche in Oakland war. Deswegen fallen die Ortsbeschreibungen umso präziser und plastischer aus, und umso stärker sind auch Kiaras Gedanken dazu: „Kein Mensch lernt laufen, solange er Steine im Bauch hat.“

Leila Mottley
Nachtschwärmerin

ecco, 416 Seiten

Edda Bauer