Literatur

17.08. | Buch der Woche

Michael Kumpfmüller • Mischa und der Meister

Kiepenheuer & Witsch

17.08. | Buch der Woche - Michael Kumpfmüller • Mischa und der Meister

Welt aus Schatten

Michael Kumpfmüllers „Mischa und der Meister“ ist eine Liebeserklärung an die russische Literatur. Die mag in diesen Tagen irritieren, kommt aber gerade rechtzeitig.

„Krisen“, sagte Michael Kumpfmüller einmal so schön, „egal ob private oder gesellschaftliche“, seien „Lernoptionen“. „Zu einer Chance werden sie allerdings erst, wenn mehr Leute daraus lernen als nicht lernen.“ So gesehen bietet die derzeitige Lage auf der Welt reichlich „Optionen“. Eigentlich wollte er mit seinem 2020 erschienenen Virginia-Woolf-Buch auf Lesereise gehen. Dann aber kam Corona. Also setzte Kumpfmüller sich an den Schreibtisch und fing mit dem nächsten an. Jetzt erscheint „Mischa und der Meister“, und der Roman ist eine lodernde Liebeserklärung an die russische Literatur. Das mag irritieren. Ausgerechnet! Wo Russland in diesen Tagen vieles ist, aber bestimmt nicht liebenswürdig. Doch abgesehen davon, dass der Krieg nicht unbedingt absehbar war, als das Buch entstanden ist, kommt es gerade recht in einer Zeit, in der auf der Straße schon russisch sprechende Passanten beschimpft werden (auch wenn sie aus Kasachstan oder der Ukraine kommen). Zeigt es doch, dass es neben Putins Russland noch ein anderes gibt. Mischa, ein dostojewskijscher Träumer, wie er im Buche steht, verliebt sich an der Freien Universität in einer Vorlesung über russische und ukrainische Literatur Hals über Kopf in seine Kommilitonin Anastasia. Zu dumm nur, dass auch die mephistophelische Luna den unbedarften Jungen in ihr Bett lockt. Wie wird er sich entscheiden? Und was hat es mit diesem seltsamen Jeshua auf sich, der mit seinem frisch gestutzten Bart und dem lockigen Haar mehr einem Hipster ähnelt als dem Messias, für den ihn alle halten?

Wen er auch anschaut, der erklärt sich zu einem besseren Menschen. Er infiziert mit Liebe. Geradezu viral. Die Epidemie nimmt in Berlin ihren Lauf. Und selbst die Teufel, die ab und an in unbedarfte Bürger fahren, sind sich nicht einig darüber, ob man den Dingen ihren Lauf lassen oder doch besser intervenieren sollte. Spielerisch vermischen sich Motive aus Bulgakows „Der Meister und Margarita“ und Dostojewskijs „Die Brüder Karamasow“ mit Zitaten aus anderen russischen Werken wie dem launigen Säuferroman „Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew. Märchenhaft mutet das an. Ob in seinem Debüt „Hampels Fluchten“ (2000), über dessen Held der unvergessene Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett einst wetterte, „Bücher über Bettenverkäufer interessieren mich nicht.“ Oder in dem zauberhaften Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ (2011) über Kafkas letzte Liebe Dora Diamant: Der 1961 in München geborene und in Berlin lebende Kumpfmüller ist vielseitig und trifft grundsätzlich den Ton. Über dem aktuellen Buch liegt immer die drückende Atmosphäre der Pandemie, die – wenn auch nur vorübergehend – die Menschen Halt im Glauben suchen lässt. Michael Kumpfmüller schreibt über die Sehnsucht nach Orientierung. Über Literatur, die diese zu leisten im Stande ist. Und darüber, dass die Frage nach Gut und Böse keinen Sinn macht, weil der Schatten die Welt nicht nur verdunkelt, sondern ihr auch Plastizität verleiht. „Mischa und der Meister“ ist nicht sein bestes Buch. Aber was will das schon heißen.

Michael Kumpfmüller
Mischa und der Meister

Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten

Welf Grombacher