Literatur

16.10. | Buch der Woche

Heimatland

Kronprinzessin Mette-Marit & Geir Gulliksen (Hg.)

Für den Gastland-Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse hat Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit gemeinsam mit Knausgård-Entdecker Geir Gulliksen einen lesenswerten Band mit zwölf literarischen Stimmen aus ihrem „Heimatland“ zusammengestellt.

Was ist typisch für Norwegen? Worin besteht die norwegische Identität? Und was macht die Literatur aus dem Land von Ibsen, Strindberg und Hamsun so interessant? Es sind Fragen wie diese, die den Ausgangspunkt dieser Anthologie mit zeitgenössischen norwegischen Stimmen bilden. Darin sind die Texte von einem Dutzend „existenzieller Desperados“ versammelt, wie Kronprinzessin Mette-Marit die Autorinnen und Autoren im einleitenden Herausgebergespräch mit Geir Gulliksen nennt. Diese gehen mit ihren Prosastücken stilistisch, motivisch und dramaturgisch unterschiedlich „dem Norwegischen“ auf den Grund.

Die Frage nach der eigenen Identität treibt in Zeiten der Globalisierung nicht nur die Norweger um. Umso überraschender ist es, dass nur wenige Texte einen explizit politischen Bezug haben. Der 1983 geborene Demian Vitanza blickt etwa ins Oslo des Jahres 2032 und lässt Kronprinz Hakon – den Gatten von Herausgeberin Mette-Marit – sein Leid angesichts der Entfremdung von seinem eigenen Volk klagen. Denn dieses Norwegen ist nach rechts gedriftet, Nationalisten bestimmen den Kurs und die norwegischen Werte wie Natur, Nachbarschaftshilfe, Gemeinschaft und Vertrauen gehen den Bach runter.

Angesichts dieser Aussichten mag der autobiografische Rückzug ein naheliegendes Mittel sein. Tomas Espedal betrauert in Form eines Langgedichts sein Aufwachsen als „Distelkind“ – von niemandem geliebt und dennoch schwer unterzukriegen. Vigdis Hjorths Erzählerin erinnert sich hingegen an den kindlichen Raum als sicheren Ort des Rückzugs, um sich vor dem unangenehmen „Blick anderer zurückzuziehen“.

Karl Ove Knausgård nutzt seine Kindheitserinnerungen, um der dunklen Vergangenheit Norwegens auf die Spur zu kommen. In seinem titelgebenden Text geht er der seiner Begeisterung für Knut Hamsun nach, der sich Jahre nach seiner Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis anno 1920 als glühender Verehrer Adolf Hitlers zeigte. Kann man dessen Bücher noch vorbehaltlos lesen, fragt sich Knausgård. Seine Antwort fällt salomonisch aus.

Vor diesem Hintergrund bilden Ole Robert Sundes Text über Stolpersteine in Oslo und Dag Solstads Reflektionen ein Gegengewicht. Während Sunde die Geschichtsvergessenheit der Norweger anklagt und ihr die Geschichten der aus Norwegen deportierten Juden entgegensetzt, attestiert Solstad seinen Landsleuten, dass sie von der Gegenwart besessen seien und ihre Vergangenheit verdrängen. Helga Flatland, Agnes Ravatn oder Wencke Mühleisen erzählen Liebes- und Familiengeschichten, nehmen die Gesellschaft als Ganzes und ihre Einzelteile in den Blick. In diesen genauen Studien lernt man mindestens so viel über die Figuren wie über sich selbst.

„Wenn man die Literatur dafür nutzt, Dinge in das eigene Leben zu übersetzen, um sie zu verstehen, dann wird Lesen wichtig“, erklärt Mette-Marit eingangs. Mit dieser aufregenden Prosasammlung kommt man nicht nur dem Ich näher, sondern erhält einen guten Einblick in die Vielfalt der Literaturlandschaft des diesjährigen Buchmesse-Gastlandes. THOMAS HUMMITZSCH

Luchterhand • 328 Seiten