Literatur
16.04. | Buch der Woche
Oliver Hilmes • Ein Ende und ein Anfang
Siedler
Abgründe und Aufbrüche
Oliver Hilmes ist historisch akribisch und ein begnadeter Geschichtenerzähler. Sein neues Werk rund um den Sommer 1945 erscheint zum 80. Jahrestag eines globalen Neuanfangs: dem Ende des Dritten Reiches.
Oliver Hilmes ist ein Kommunikationsprofi. Als Kulturmanager und Stiftungsleiter der Berliner Philharmoniker präsentiert er die Marke klassische Musik nicht als elitäres und sperriges Produkt, sondern als niederschwellige Volksveranstaltung. Als Absolvent dreier Studiengänge an der Sorbonne und Uni Marburg, unter anderem als Historiker, weiß Hilmes, dass sich anspruchsvolle Sachverhalte über spannende Geschichten am besten vermitteln lassen. Seine literarische Karriere begann er mit Biografien der Musikerehefrauen Alma Mahler-Werfel und Cosima Wagner, und gewann mit bis dahin unbekannten Quellenerkenntnissen und dem Schreibtalent eines Thrillerautors eine weite Leserschaft. Seit 2017 überträgt er sein Credo, dass komplexe Zusammenhänge nicht langweilig sein müssen, auf die Zeit des Dritten Reiches. Sein Werk »1936« über die Olympiade der Nazis und einen eindrucksvollen Einblick in die Schicksale berühmter und unbekannter Menschen zu jener Zeit wurde direkt zum internationalen Bestseller. In seinem Werk »Schattenzeit« ging es um das dunkle Jahr 1943 in Deutschland, in »Ein Ende und ein Anfang« nun um die beginnende Zuversicht nach der Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. In kurzen Anekdoten erzählt Hilmes von Treffen der Großen Drei, den Siegermächten USA, Großbritannien und der Sowjetunion in Potsdam. Stalin lässt seine Teilnehmer bewusst warten, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Churchill steht kurz vor der Abwahl und Truman überlegt, wie er Stalin am besten vermitteln soll, dass die USA eine Atombombe über Japan abwerfen werden. Dabei ist Stalin durch seine Spione im Oppenheimer-Team bereits bestens informiert. Die Geschichten drehen sich um große Namen: Thomas Mann führt sich im amerikanischen Exil wie eine Diva auf, die von Empfang zu Empfang pilgert und sich über die Qualität der Buffets beschwert. Der junge JFK ist besessen von Hitler. Der gefeierte Komponist und Präsident der Reichsmusikkammer Richard Strauss ist bestenfalls ein Opportunist. Viel unmittelbarer erzählt der Autor aber auch von den Schicksalen einfacher Leute, wie dem Paar Marta und Gerd, deren Beziehung nach Martas Vergewaltigung durch einen sowjetischen Soldaten zerbricht und die, wie sie später in ihr Tagebuch notiert, »keine Zeit für Seelenleben« haben. Der 16-jährige Alfred wurde als letzte Hoffnung des Führers an die Front geschickt. Der Krieg endet vor seinem Einsatz und er wird fortan von Lager zu Lager durch Deutschland transportiert. Adolf und Margot verlieben sich als KZ-Insassen ineinander und bleiben zunächst zwischen Leichenbergen in Theresienstadt, weil sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Anders als in »Schattenzeit«, in dem sehr wenig Licht durch die Schatten des totalen Krieges und der Endlösung dringt, bricht in »Ein Ende und ein Anfang« die Sonne durch die Wolken des zerbombten, aber zupackenden Berlins. Neben der romanhaften Reise durch das beginnende Leben in der Nachkriegszeit bietet Hilmes auch interessante Statistiken, etwa die, dass zwar mehr als zwei Drittel der Gebäude in Berlin in Mitleidenschaft gezogen waren, nur etwa ein Zehntel hin-gegen als komplett unbewohnbar galt. Bemerkenswert auch, dass im Juli 1945 bereits mehr als 35 Millionen Menschen wieder mit den Berliner Verkehrsbetrieben transportiert wurden. Hingebungsvolle Recherche und der emphatische Wille, Schicksale nachvollziehbar zu machen, egal auf welcher Seite die Menschen stehen, macht dieses einzigartige Geschichtspanorama zu einem lesenswerten Augenöffner.
Oliver Hilmes
Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte
Siedler / 288 Seiten / 25,00€
Miguel Peromingo