Literatur

16.02. | Buch der Woche

Hanya Yanagihara • Zum Paradies

btb

Leid und Leidenschaft

Die Gegenwart steigert die Lust auf pandemische Literatur nur bedingt. Ein Glück, dass der Roman „Zum Paradies“ von Hanya Yanagihara weit mehr ist als das.

Man könnte meinen, tödliche Viren wären genug Stoff für einen Roman. Hanya Yanagihara sieht das scheinbar anders. Sie spannt in „Zum Paradies“ ein fiktives Gesellschaftspanorama über drei Jahrhunderte, vom gediegenen Gilded Age bis in die pandemische Zukunft, die durch die Sehnsucht nach dem Paradies miteinander verknüpft sind. Wie könnte es dort aussehen? Welche Sehnsüchte und Träume zeigen sich darin? Und für wen ist es gemacht? Einer der Hauptdarsteller: Der Washington Square in New York City, der auch schon für Henry James von literarischem Interesse war. Dort erschafft Yanagihara drei Versionen von Amerika. 1893, als sich der Bankiers-Enkel David nicht zwischen arrangierter Ehe mit Charles und wilder Liebe mit Edward entscheiden kann, finden sich Leser in einer Welt, die Homosexualität nicht ausgrenzt. In den sogenannten Freistaaten im Norden dürfen Menschen lieben, wen sie wollen. David scheint trotz der utopischen Rahmenbedingungen im Unglück zu leben und muss sich für seine Art des Paradieses entscheiden. Hundert Jahre später wandelt ein neues Gespann aus David, Charles und Edward zwischen Hawaii und New York City. David, der mit dem wohlhabenden und deutlich älteren Charles am Square lebt, hat für sein privilegiertes Leben seine hawaiianisch-royalen Wurzeln hinter sich gelassen. Sein Vater, der frühere König, fristet währenddessen ein ehrloses Dasein, das der Idee eines Königreichs ohne koloniale Opfer entsprang.

Im Jahr 2093 liegt der Washington Square dann in Zone Acht, ist Teil eines totalitären Staats im Würgegriff tödlicher Viren. Protagonistin Charlie kann den Platz nur mehr im Kühlanzug umrunden, die Atmosphäre ist lebensfeindlich, die Zukunftsaussicht katastrophal. Und trotzdem sucht auch sie den Weg ins Paradies. Damit zeigt Yanagihara: Alle Versionen des Paradieses verschieben bloß die Grenzen des gesellschaftlichen Urteils über Richtig und Falsch – und sind niemals für alle zugänglich. Dass US-amerikanische Autorin mit dem letzten Teil beklemmend tagesaktuell wird, war nicht geplant: Die Idee zum Buch entstand 2017, nachdem Trump zum Präsidenten gewählt wurde und Yanagihara über die Zusammenhänge großer gesellschaftlicher Veränderungen nachdachte. Unverändert bleiben dagegen ihre Prinzipien: Niemand liebt ihre Protagonisten so sehr wie die Autorin selbst und niemand könnte sie so erbarmungslos ins Leid stürzen. Sie schreibt Charaktere mit Präzision, verleiht ihnen ambivalente Facetten und offenbart mit jedem Detail mehr Unglück.

„Zum Paradies“ bohrt nicht so tief in offenen Wunden wie ihr Weltbestseller „Ein wenig Leben“, die Gewalt ist diffuser, aber nicht weniger bedrohlich. Ihre Sätze sind mindestens so überwältigend wie der Inhalt des Epos. Die vielen Wiederholungen und ausgedehnten Handlungsstränge zehren allerdings am Geduldsfaden. Was zum Durchhalten animiert, ist die Offenheit der Themen, die Yanagihara anpackt und damit die Gedanken der Leser in neue Richtungen lenkt: Freiheit, Macht, Unterwerfung und Liebe. „Zum Paradies“ ist eine epische Einladung, die Geschichte selbst zu Ende zu denken.

Hanya Yanagihara
Zum Paradies

Claassen, 896 Seiten

Elisabeth Krainer