Musik

15.10. | Album der Woche

Emily D'Angelo • energeia

Deutsche Grammophon

Foto: Mark Pillai / Deutsche Grammophon

Mystik im Kopfkino

Die kanadische Mezzosopranistin Emily D'Angelo widmet sich auf ihrem ersten Album musikalischen Werken zwischen mittelalterlicher Mystik und bedrohlichen Gegenwartsbeschreibungen. Ihr Ziel: Musik zu erschaffen, die Bilder im Kopf erzeugt. Das gelingt ihr mit orchestraler Klassik, die auf minimalistische Elektronik trifft.

Emily D’Angelo, der Kern Ihres Albums sind zwei Kompositionen von Hildegard von Bingen. Wann sind Sie erstmals auf die Arbeit der Mystikerin gestoßen?
Damals war ich noch ein Kind, habe im Chor gesungen. Ich weiß noch, was mich besonders an ihrer Musik faszinierte: Sie klang für mich zugleich vollkommen neu und doch vertraut. Und bis heute erscheint mir ihre Arbeit absolut zeitgemäß.
Wie kann das sein? Hildegard von Bingen wirkte im 12. Jahrhundert.
Die Welt war damals eine ganz andere. Aber: Auch damals hatten die Menschen Angst, suchten nach Antworten und Geborgenheit. Viele suchten sie im Glauben, wobei Hildegard von Bingen als Äbtissin diesen Glauben an Gott mit ihrem Glauben an die Kunst und Wissenschaft verband. Das ist bis heute das Interessante an dieser Persönlichkeit: Sie war zu Hause in der Kunst und Literatur, in der Glaubensvermittlung und Medizin, in der Ethik und in der Poesie.
Neben Hildegard von Bingen singen Sie auf dem Album Werke von drei zeitgemäßen weiblichen Komponistinnen, Hildur Guðnadóttir, Missy Mazzoli und Sarah Kirkland Snider. Betrachten Sie die Auswahl der Lieder als feministisches Statement?
Nicht bewusst, nein. Wenn allerdings jemand die Auswahl feministisch lesen möchte, dann habe ich nichts dagegen. Es gibt so viele Alben, die aus Werken von männlichen Kompositionen bestehen, dass es durchaus auffallen darf, dass es in meinem Fall anders ist. Ausgesucht habe ich diese Künstlerinnen und ihre Stücke, weil sie zusammengenommen ein Album bilden, das sich als eine durchgehende Klangreise rezipieren lässt. Alle vier Frauen vereint, dass sie sich mit ihrer Musik auf die Suche nach Antworten auf ungelöste Fragen begeben. »Liður« von Hildur Guðnadóttir zum Beispiel ist ein Auszug aus ihrer Musik für die Fernsehserie »Chernobyl«, die sich mit den Folgen dieser nuklearen Katastrophe beschäftigt, ihr Stück »Fólk faer andlit« thematisiert die Notlage von geflüchteten Menschen in ihrer Heimat Island. Was alle Stücke auf diesem Album eint, ist die Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein. Wobei die Musik jeweils ein Weg ist, einer Antwort zumindest ein wenig näherzukommen.
Was steckt hinter dem Titel »Enargeia«?
Es ist ein Konzept aus dem antiken Griechenland, nach dem Worte die Kraft besitzen, bei den Hörenden Bilder im Kopf entstehen zu lassen.
Kopfkino.
Genau. Im alten Griechenland war das eine Kunst der Rhetorik. Mein Ziel ist es, dies mithilfe der Musik zu erreichen.
Das Album ist Ihr Debüt – und erscheint unter dem ehrwürdigen Label der Deutschen Grammophon. Was war Ihr eigener Anspruch an diese Veröffentlichung?
Ein Album zu konzipieren und aufzunehmen, das die Hörenden mit auf eine Reise nimmt. Wichtig war mir, dass sich das Album unterwegs wandelt. Es gibt orchestrale Musik, wir haben aber auch Songs mit elektronischen Elementen aufgenommen, zum Beispiel »A Thousand Tongues« von Missy Mazzoli oder »Nausicaa« von Sarah Kirkland Snider.
Beim Sniders-Stück »The Lotus Eaters« gibt es dann sogar E-Gitarre, Bass und Schlagzeug zu hören…
… was für den Produzenten Jonas Niederstadt eine besondere Herausforderung war. Er hat sehr viel Arbeit darauf verwendet, die Lieder so aufzunehmen, dass sich die verschiedenen Elemente in den Gesamtklang integrieren, was bei Drums oder E-Gitarren, die auf dieses orchestrale Klangsetting treffen, nicht ganz einfach ist.
Wie hat sich Ihre Art zu singen je nach Setting verändert?
Ich habe intensiv mit Jonas darüber diskutiert, und wir kamen zu dem Schluss, dass meine Stimme im Kontext eines Stücks, das einem Popsong ähnelt, anders klingen muss als bei einem Stück, das eindeutig der Klassik zuzuordnen ist. Hinzu kommt, dass ich auf »The Lotus Eaters« mehrstimmig zu hören bin, ich begleite mich als Sängerin also selbst – was für mich, die es gewohnt ist, als Solistin zu arbeiten, eine neue, aber ganz wunderbare Erfahrung war.

Emily D'Angelo
energeia
Deutsche Grammophon – 8. Oktober

Als Emily D’Angelo (geboren 1994 in Toronto) 2016 ihre Karriere begann, galt sie mit ihrem Mezzosopran als eine überaus talentierte Stimme für Mozart. Sie begeisterte in New York und Mailand: ein neuer Star am Himmel der Klassischen Musik. Ihr Album-Debüt für die Deutsche Grammophon überrascht nun – und zwar positiv: Statt auf ein erwartbares Klassik-Repertoire zu setzen, erarbeitete Emily D’Angelo eine anspruchsvolle Tracklist zwischen mittelalterlicher Mystik und dem Soundtrack moderner TV-Serien. Und der Spagat funktioniert: Als anerkannt großartige Sängerin hat die Kanadierin keine Leistungsschau nötig. Wichtiger ist ihr ein perfekter Flow der Musik zwischen Klassik, Elektronik und auch ein wenig Pop. Wobei dieser Fluss der Dinge in den ruhigen Momenten der Platte intensiv erfahrbar wird, insbesondere bei den zwei Interpretationen der Werke von Hildegard von Bingen.

André Boße