Literatur

15. 08. | Buch der Woche

Christine Mangan • Nacht über Tanger

CHRISTINE MANGAN

Nacht über Tanger

Blessing • 13. August


Hafen ohne Wiederkehr

Zwei Frauen mit Vergangenheit treffen sich im Marokko der Fünfzigerjahre. Christine Mangan verwebt ihren literarischen Psychothriller mit Film-Noir-Elementen und etwas Wahnsinn.

1956 ist Tanger ein Ort, der rund 250 Kilometer von Casablanca entfernt ist und zugleich etwa 13 Jahre vom gleichnamigen Filmklassiker. Marokko steht kurz vor der Unabhängigkeit, und in den Straßen der europäischsten aller afrikanischen Städte tummeln sich Menschen, wie sie in solchen Übergangszeiten gedeihen. Geschäftemacher, Geheimdienstler und Glücksritter, aber auch Künstler und Kolonialromantiker mit lokalpatriotischen Phantomschmerzen. Alice Shipley gehört nicht dazu. Die junge Collegeabsolventin ist ihrem Mann nach einer überstürzten Heirat nach Marokko gefolgt, wo er ihr Geld verprasst und ihre Geduld strapaziert, während er sie in der gemeinsamen Wohnung einkaserniert. Der Staub, die Hitze und das geschäftige Treiben der Stadt sind nichts für Alice, deren feinsinniges Naturell hinter verschlossenen Fensterläden verkümmert. „Tanger war ein Ort, der zur Rebellion anstachelte“, schreibt Christine Mangan. „Ein Ort, der dies von seinem Volk, seinen Bewohnern verlangte. Ein Ort, dem man sich ständig anpassen musste. Ein Ort, um den man sich bemühen musste. Ein Ort, wo man um das, was man haben wollte, kämpfen musste. Es war ein Ort für Lucy.“ Lucy Mason wiederum ist Alice’ Freundin und Zimmergenossin aus Studentenzeiten, eine ehrgeizige junge Frau aus einfachen Verhältnissen, deren ausgeprägter Wille schon immer eine große emotionale Bedürftigkeit kaschierte. Nun steht sie plötzlich und überraschend in Tanger auf der Türschwelle und möchte nach einem Jahr Funkstille an eine Beziehung anknüpfen, die schon einmal mit einem Fiasko endete. Der ungebetene Besuch irritiert und fasziniert Alice, denn die zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben könnten gegensätzlicher – und einschüchternder – nicht sein. Vor der Kulisse der sonnengebleichten Hafenstadt entspinnt sich eine Dreiecksgeschichte, die ihr hochherziges Vorbild aus „Casablanca“ ins Zwielicht rückt. Auf eben dieses Zwielicht kommt es der amerikanischen Roman-Debütantin Christine Mangan an. „Nacht über Tanger“ verlegt seinen exotisch-undurchsichtigen Schauplatz direkt in die labile Psyche seiner Hauptfiguren und lässt den schleichenden Wahnsinn durch die Fugen des Handlungsparketts blitzen. Es ist eine Geschichte, die Motive von Hitchcock und Highsmith aufgreift, um ihre Leser spätestens ab der Mitte des Buchs auf unsicheres Terrain zu führen, zweifach exiliert in der fremden Umgebung. Mangan findet eine wollüstige Freude daran, ihrem Romanpersonal den Boden unter den Füßen zu entziehen, bis nichts als jene psychologische Substanz übrigbleibt, die sich beim Lesen in altmodische Spannung übersetzt. Ab hier schnurrt die Story wie am Schnürchen – präsentiert durch die abwechselnden, ambivalenten und nicht immer vertrauenswürdigen Perspektiven ihrer beiden Protagonistinnen und jeweils einen Schritt hinter ihrem erzählerischen Mastermind. „Man weint, wenn man kommt, und man weint, wenn man geht“, heißt es an einer Stelle. Genau wie Casablanca scheint Tanger ein Ort zu sein, den man nie wirklich verlässt – nicht einmal mit gefälschten Ausweispapieren.

Jonas Grabosch


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