Literatur

15.05. Buch der Woche

Chip Cheek • Tage in Cape May

Chip Cheek

Tage in Cape May

Blessing • 336 Seiten

Eine Hochzeitsreise gerät zum Fiasko, als sich der Bräutigam in eine andere Frau verliebt. Chip Cheek reichert seine elegante Erzählung mit Dekadenz und viel Sex an.

Der erste und bisher einzige Roman von Chip Cheek beginnt mit der Unschuld eines frisch aufgeschlagenen Federbetts. Es ist 1957, die McCarthy-Jahre sind gerade vorüber und Effie und Henry spüren den Optimismus des 20. Jahrhunderts in ihren jungen Knochen. Sie ist 18, er 20, beide mittelgut betuchte Südstaatler, die ihre Flitterwochen an der Atlantikküste von New Jersey verbringen wollen. Die Wahl fällt auf Cape May, einen der traditionsreichsten Badeorte der Vereinigten Staaten. Hier verbrachte Effie die glücklichsten Jahre ihrer behüteten Jugend, bernsteinfarbene Mädchenerinnerungen inklusive. Nun aber wirkt die Nebensaison garstig und trostlos, die menschenleeren Strände wie ein ungutes Omen ihrer überstürzten Verbindung. Das Ehepaar erwägt die Abreise. Am letzten Abend jedoch kehrt plötzlich Leben in die Bretterbude ein, denn auf der Straßenseite gegenüber schmeißt eine illustre New Yorker Gesellschaft die Gläser an die Wand. Clara, eine etwa zehn Jahre ältere Hassliebe von Effie, ist zum Society-Star avanciert und schwelgt im luxuriösen Lifestyle der Hautevolee. Teure Partys, frivole Jazzmusik und aufreizend lockere Umgangsformen geben den verführerischen Ton an, und Effie und Henry lernen als Zaungäste eine Lebensart kennen, die ihre provinzielle Moral zu verlachen scheint. Doch weil sie jung und neugierig sind, fühlen sie sich von der Schrankenlosigkeit der selbstbewussten Ostküstenaristokratie gleichzeitig magisch angezogen und verlängern den Urlaub. „Tage in Cape May“ ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein pornografischer Roman. Das Thema der verlorenen Unschuld und des hohlen Hedonismus ist etabliert genug, um ganze Generationen von lesenden Schlüssellochguckern anzuziehen, die wissen wollen, was der große Gatsby nach Einbruch der Dunkelheit treibt. In Fitzgeralds Klassiker ist das letzten Endes gar nicht mal explizit viel, in Chip Cheeks Romandebüt dafür umso mehr. Der erste Teil des Buchs erzählt keusch von den Hemmungen junger traditionsverhafteter Ehepaare aus der Eisenhower-Ära, um im zweiten Teil sehr europäische Sitten einkehren zu lassen. Die „Tage in Cape May“ werden immer zügelloser, bis sie zu einem Genre mutieren, das Liebhaber erotischer Romane auch als „einarmige Literatur“ kennen. Tagsüber hat das mit Gin Tonics und Segelausflügen zu tun, später am Abend gibt es spitzfindige Konversationen und unverblümten Sex, vom heimlichen Stelldichein bis zur weniger heimlich orchestrierten Orgie. Cheek schreibt im atemlosen Tempo des geborenen Schriftstellers und verwendet gerade genug Sorgfalt auf die Schilderungen von Verrat, Intrige und innerer Zerrissenheit, um seiner Erzählung etwas Wahrhaftiges und Zerstörerisches anhaften zu lassen. Seine kühlen Beobachtungen stehen dabei im Kontrast zu einer Geschichte, deren Temperatur stetig wie in einem Kernkraftwerk steigt, das mit der Spaltung von Lust und Liebe betrieben wird. Als Sommerlektüre ist „Tage in Cape May“ damit einer der heißesten Tipps der Saison – nur auf die Hochzeitsreise sollte man das Buch nicht unbedingt mitnehmen.

Markus Hockenbrink