14.05. | Buch der Woche: Ocean Vuong • Der Kaiser der Freude
Hanser
Wahlverwandtschaften
Immer Tellerwäscher, niemals Millionär. Der Amerikanische Traum mag ausgeträumt sein, also sucht Ocean Vuong nach Alternativen. „Der Kaiser der Freude“ erzählt eine Erfolgsstory der ganz anderen Art.
Hai ist neunzehn, und er steht an einem Brückengeländer, den Suizid im Sinn. Die Beweggründe dafür werden erst später deutlich, denn der junge Mann führt so etwas wie ein Doppelleben. Seiner Mutter tischt er die große Lüge von einem erfolgreichen Studium an einer angesehenen Universität auf, in Wirklichkeit verbringt er seine Tage mit Drogenkonsum und Realitätsflucht. Bevor es zur Tragödie kommt, schreitet die 82-jährige Grazina ein. Sie ist die einzig verbliebene Anrainerin an jener trostlosen Brücke, seit ein Chemieunfall diese Nachbarschaft in Connecticut offiziell unbewohnbar gemacht hat. Grazina leidet nicht nur unter Demenz, sondern auch unter ihren Erinnerungen an die Flucht aus Litauen, als Stalins Armeen das Land in die Sowjetunion zwangseingegliedert haben. Sie nimmt den jungen Mann bei sich auf, stellt keine Fragen, und führt ihn so ins Leben zurück. Was Grazina schon weiß und Hai langsam zu begreifen beginnt: Dieses ungewöhnliche Arrangement wird die wichtigste Beziehung sein, die beide jemals hatten. „Der Kaiser der Freude“ heißt im Original „The Emperor of Gladness“, und das ist nicht uninteressant, denn Gladness ist der Name des fiktiven Ortes, an dem sich die Geschichte abspielt. Es ist einer jener rührend-optimistischen US-Städtenamen, die klingen, als wollten sie alles Glück und alle Hoffnung in die Zukunft projizieren und damit überhaupt erst möglich machen. Das hat eine gewisse Tradition. Der amerikanische Traum ist immer auch ein Stück weit Selbsthypnose, die Vorstellung, dass der Glaube Berge versetzt und der Erfolg ein Leben adelt. Das kann man oberflächlich finden, es kann aber auch der Grund dafür sein, aus dem die vielen verschiedenen Ethnien und Kulturen in dem Land vergleichsweise gut miteinander auskommen. Ocean Vuong interessiert sich aber für eine andere Frage: Was macht ein Leben wertvoll, wenn an Erfolg nicht zu denken ist, wenn das eigene Glückskonto chronisch im Minus ist? Seine Figuren gehören einer prekären Klasse an, die für Mindestlöhne in Fast-Food-Restaurants arbeiten und übrig gebliebenes Essen zum Vorzugspreis kaufen. Der gesellschaftliche Aufstieg ist da nicht mehr eingeplant, dafür kommt die eigene Identitätsgeschichte wieder zum Vorschein. Hai stammt genau wie Vuong ursprünglich aus Vietnam, und genau wie in dessen viel beachtetem Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ drängen sich autobiografische Bezüge auf. Da ist der Gedanke, zwischen den Kulturen zu stehen, nicht mehr den Traditionen der Eltern verhaftet. Da ist der Gedanke, genau diese Elterngeneration zu enttäuschen, obwohl es erst ihre Blauäugigkeit ist, die ihre überhöhten Erwartungen möglich macht. Da ist der Gedanke, Seelenverwandtschaften an unwahrscheinlichen Adressen zu finden. „Der Kaiser der Freude“ ist schon deshalb ein ambitionierter Roman, weil er versucht, dem Alltag einer abgekoppelten Arbeiterschicht Würde zu verleihen, von Hilfsbereitschaft und Hoffnung zu sprechen. Die Sprache, die Vuong dabei verwendet, ist fast schon zu poetisch, um ihrem Sujet gerecht zu werden, die ganze Geschichte eher eine Meditation als eine packende Erzählung. Das ist ein wissentlicher Bruch mit der klassischen Heldenerzählung und mit der naiven Glaube-an-deine-Träume-Botschaft einschlägiger Disney-Filme. Aber es sorgt auch dafür, dass aus Hai eine Art Huckleberry-Finn-Figur wird, die freilich auf ein ganz neues, ganz anderes Jahrhundert blickt. Das dafür aber umso klarsichtiger.
Ocean Vuong
Der Kaiser der Freude
Übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Anne-Kristin Mittag
Hanser / 528 Seiten / 27,00 €
Markus Hockenbrink