Kino
12.09. | Kinotipp der Woche
Treasure – Familie ist ein fremdes Land
Das Erbe der Gewalt
Holocaust-Aufbereitung als Roadmovie mit dunkelbuntem Humor: Julia von Heinz macht das mit überraschender Besetzung in ihrem neuen Film möglich.
»Welcher Jude besucht Polen als Tourist?« In dieser kurzen Frage stecken 1.000 Jahre Diaspora, Heimat, Familie, Vertreibung, Vernichtung, das dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte und eine große Por- tion Galgenhumor. Als Edek 1991 in War- schau aus dem Flieger steigt, tut er es als jemand, der nach 50 Jahren mal wieder zu Hause vorbeischaut. Seine Tochter Ruth aber führt sich auf wie die typische Touristin; be- waffnet mit Stadtplänen und einem Haufen Literatur über Nazis. Beide sind aus New York gekommen, um in Polen Spuren von Edeks Eltern zu finden. »Treasure – Familie ist ein fremdes Land« ist die Kino-Adaption des Bestsellers »Zu viele Männer« von Lily Brett aus dem Jahr 2002. Seit den frühen 90er Jahren schreibt Brett, die Tochter zweier Holocaust-Überlebender, autobiografisch geprägte Romane, in denen es oft um die Beziehung zu ihrem Vater geht. Selbstironie und Galgenhumor sind dabei obligatorisch. »Der Humor, mit dem Brett Antisemitismus und dem Holocaust begegnet, ist etwas, das sich im deutschen Geschichtsunterricht natürlich völlig verbietet. Umso befreiender aber war es für mich, als ich auf ihre Bücher stieß«, leitet Regisseurin Julia von Heinz (»Und morgen die ganze Welt«, 2020) ihre Wahl der Besetzung ein, die mindestens bis kurz vor der Uraufführung bei der diesjährigen Berlinale für überraschte Reaktionen sorgte. Stephen Fry und Lena Dunham. Er als Autor, Moderator, Schauspieler, Podcaster und Komödiant ein britisches Multimedia-Phänomen. Sie seit der von ihr entwickelten und gespielten Serie »Girls« eine Ikone des selbstironischen Feminismus. Weniger bekannt war bei beiden bisher der jüdische Hintergrund. Fry, dessen Mutter 1938 aus Wien fliehen konnte, wuchs in London unter Juden auf, »die wollten, dass ich in einer freien Gesellschaft lebe. Das Wissen um den Holocaust sollte mich nicht belasten.« In diesem Sinne hat er Edek angelegt, als liebenswert tapsigen Optimisten, der jeder echten Konfrontation aus dem Weg tänzelt. Sehr zum Leidwesen von Tochter Ruth, die jedes Fitzelchen Vergangenheit sammelt und in ihre eigene Identitätsfindung einbaut. »In ›Treasure‹ geht es nicht nur um einen riesengroßen Gewaltakt«, erklärt Dunham, »sondern auch, wie er noch viele Generationen danach beschäftigt. Das Erbe der Gewalt betrifft jeden!« Und Fry bringt die Botschaft des Films mit einem Mark-Twain-Zitat auf den Punkt: »Die Geschichte wieder- holt sich vielleicht nicht, aber sie reimt sich.«
Treasure – Familie ist ein fremdes Land
1 Std. 52 Min.
Stephen Fry und Lena Dunham als Vater und Tochter on the road in Polen. Er versucht, den Holocaust zu vergessen, sie braucht ihn zur Identitätsfindung. Daraus ergeben sich ebenso ergreifende wie auch lustige Momente, die Co-Autorin und Regisseurin Julia von Heinz (»Und morgen die ganze Welt«) mit viel Fingerspitzengefühl einfängt. »Treasure – Familie ist ein fremdes Land« ist einer der wenigen Filme, die vom Erbe der Gewalt erzählen, und davon, wie es sich über mehrere Generationen hinweg auswirken kann.
Edda Bauer