Literatur

12.09. | Buch der Woche

Philippe Dijan • Marlène

PHILIPPE DJIAN

Marlène

Diogenes • 29. August


Ringen um Normalität

Die Story sei ihm egal, hat Philippe Djian wiederholt gesagt. Dieser Roman zeigt erneut, dass seine Sprache ausreicht, um eine fesselnde Geschichte zu erzählen.

„Ich ziehe ein gefährliches Leben einem Scheißleben vor“, sinniert Kriegsveteran Richard kurz nach seiner letzten mehrmonatigen Gefängnisstrafe und formuliert damit das Motto des Romans "Marlène". Der französische Autor Philippe Djian ist seit Jahren ein Meister darin, den Alltag als Meer der Monstrosität zu beschreiben, in der chaotische, nach Normalität strebende Existenzen, gestrandeten Fischen gleich, lang nach Luft schnappen, bevor sie verenden. Richard und Dan sind seit Kindertagen befreundet. Sie haben gemeinsam als Soldaten in den Kriegen im Jemen, Irak und in Afghanistan gedient und sind nun, gebrochen und zynisch, zurück in der französischen Provinz. Während Richard sich als Kleinkrimineller verdingt, versucht Dan still und selbstdiszipliniert, seine Albträume in Schach zu halten. Er geht am frühen Morgen joggen, hält seine Wohnung sauber und nimmt sogar die Tochter seines Freundes Richard und seiner Ex-Flamme Nath für kurze Zeit bei ihm auf, nachdem sie dem Elternhaus entflohen ist. In kurzen Kapiteln und direkten Sätzen schafft Djian eine konzentrierte Atmosphäre, die den Leser in eine wahrlich trostlose Vorstadtkulisse führt, wo Sehnsüchte unausgesprochen bleiben und Zwänge den Ton angeben. Dann tritt Marlène hinzu. Sie ist die Schwester von Richards Frau Nath und war 18 Jahre lang verschollen. Trottelig und unscheinbar klammert sie sich an Dan, der sie als Einziger nicht offen ablehnt. Marlène schläft auf Bahnhofstoiletten ein, fährt Dans Motorrad zu Schrott und schüttet sich im Autokino Bier über ihr Kleid. Letzteres ist nicht ganz unstrategisch, wie sich herausstellt. Trotzdem verzerrt ihre unbeteiligte Art die Bemühungen um Normalität und wandelt sich im Laufe der Geschichte in eine Abwärtsspirale aus Arglosigkeit und Brutalität. Wie in seinem 80er-Jahre-Kultroman „Betty Blue. 37,2 Grad am Morgen“ und zuletzt in „Oh!“, der von Paul Verhoeven als „Elle“ verfilmten Vergewaltigungsstudie, positioniert Djian Frauen als Dreh- und Angelpunkt seiner literarischen Komposition. Die drei weiblichen Figuren Marlène, Nath, die abgebrühte wartende Ehefrau, und Mona, ihre Tochter, bilden den emotionalen Bezugsrahmen, in dem sich die männlichen Figuren bewegen dürfen und ob mangelnder Selbstreflektion an sich selbst scheitern. Einigen Autoren kann man den Vorwurf machen, sie würden aus Furcht, sprachlich überstilisiert zu wirken und zu viel Aufmerksamkeit auf das Wort an sich lenken zu wollen, ein ermüdendes Handlungs-Feuerwerk abfackeln. Bei Djian ist es umgekehrt: Er stellt die Sprache über den Inhalt und erreicht gerade durch diese mangelnde Fixierung auf die Entwicklung der Story und durch seine Entwicklung glasklarer und schillernder Sätze einen beachtlichen dramaturgischen Sog. „Marlène“ ist gleichzeitig auch eine überfällige Reflektion der Auswirkungen französischer Militärinterventionen auf die Veteranen und auf die Gesellschaft, die sie vermeintlich wieder aufnehmen soll. Die Kollision von Traumata und verzehrender Normalität ist durch diesen realen Hintergrund provokant und treffend illustriert.

Miguel Peromingo


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