Literatur

12.06. | Buch der Woche

DAMIR OVCINA • Zwei Jahre Nacht

DAMIR OV?INA

Zwei Jahre Nacht

Rowohlt • 752 Seiten

Stadt unter Belagerung

Und plötzlich ist Krieg: Unbedacht im falschen Stadtviertel gelandet, muss ein 18-Jähriger während des Bosnienkonfliktes zwei Jahre lang im Kessel von Sarajevo überleben.

Im Januar ist noch alles weiß: Himmel, Schnee und Unschuld. Doch das äußere Unglück bahnt sich im Persönlichen an: Die Mutter ist krank und dem Mienenspiel der Ärzte ist abzulesen, dass es mit ihr nicht gut ausgehen wird. Der namenlose Protagonist ist gerade 18 Jahre alt, eigentlich müsste sein Leben jetzt erst richtig beginnen. Er trifft ein Mädchen in der alten Wohnung seiner Familie im benachbarten Stadtteil. Seine Mutter stirbt und plötzlich bricht der Krieg aus. Sarajevo ist belagert, die Frontlinien verlaufen mitten durch die Stadtviertel und er kann nicht mehr zu seinem Zuhause zurück. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Am 06. April 1992 beginnt für die Bewohner der Stadt ein Albtraum, der 1425 Tage andauern soll und zur längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts ausartet. Er mittendrin. Ausgeliefert und abgeschnitten von Freunden, Bekannten und dem Vater. Hier trägt er den falschen Namen und bekommt das zu spüren. Doch zumindest bleibt er am Leben, landet in einem Arbeitsbataillon der bosnisch-serbischen Besatzerarmee. Schleppt Leichen und buddelt Gräber inmitten von Scharfschützen und Panzerlärm, während sich um ihn herum täglich traumatisierende Szenen und unfassbare Geschichten von Demütigung, Gewalt und Vergewaltigung gegenüber der Zivilbevölkerung abspielen. Die Wohnung wird zu seinem Zufluchtsort. Dort wird er von einer Frau versorgt, mit deren Hilfe er es schafft, die Zeit zu überstehen. Alles, was er sieht, hört und erlebt, schreibt er auf. Damir Ov?ina wurde 1973 in Sarajevo geboren und ist heute Direktor einer Schule für blinde und sehbehinderte Kinder. In » Zwei Jahre Nacht « verarbeitet er die Erlebnisse, die er, eingesperrt im Stadtteil Grbavica, während des Bosnienkrieges machen musste. Dabei gelingt es ihm, trotz seiner durchgängig reduziert- deskriptiven Sprache und den, manchmal kaum zu ertragenen, geschilderten Kriegs- und Terrorgräuel, noch Menschlichkeit und Poesie zu transportieren, die auch in allertiefster Nacht noch ein Fünkchen Hoffnung glimmen lassen. Das ist bei all diesen geschilderten Ereignissen nicht selbstverständlich, denn » Zwei Jahre Nacht « stimmt seine Leser wütend, fassungslos und verzweifelt, vermag es aber trotz allem, aus dieser negativen Energie immer wieder Kraft und Antrieb zu gewinnen. Ov?inas gewaltiger Roman ist dabei nicht nur eine herausragende künstlerische Verarbeitung jenes bestimmten historischen Zeitabschnittes des Balkankrieges, sondern wird im Hinblick auf die derzeitigen politisch-nationalistischen Entwicklungen weltweit auch zur dringlichen Warnung. Denn was sich hier wie eine ferne Dystopie liest, zeigt nachdrücklich, wie schnell die Hölle in den scheinbar unerschütterlichen gesellschaftlichen Alltag aller einbrechen und darin die menschlichen Abgründe offenzulegen vermag. Eben noch hilfsbereite und befreundete Nachbarn, Arbeitskollegen und Mitschüler, stehen diese sich plötzlich als angebliche Todfeinde gegenüber und lassen sich vom geschürten Hass mittreiben – und das bloß aufgrund des unterschiedlichen Klangs ihrer Nachnamen. Jens Mayer