Literatur
12.02. | Buch der Woche
Caroline Darian • Und ich werde dich nie wieder Papa nennen
Kiepenheuer & Witsch
Täter, Opfer, Kind
In „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“ beschreibt Caroline Darian, die Tochter von Gisèle Pelicot, die verheerenden Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs ihres Vaters Dominique auf sie und ihre Familie.
Viele Menschen legen sich ein Hobby zu, wenn sie in Rente gehen. Dominique Pelicot fängt in seinem südfranzösischen Altersruhesitz bei Avignon an, mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu experimentieren. Er sucht eine Dosis, die für mehrere Stunden bewusstlos macht. Denn in diesem wehrlosen Zustand braucht er seine Ehefrau Gisèle, um sie vergewaltigen zu können und um sie von anderen Männern, vielen anderen Männern, vergewaltigen zu lassen.
„Mein Vater war schon immer ein sexuell Perverser. Schon immer! Man wacht nicht einfach eines Morgens auf und überlegt sich, dass man seine Frau betäubt und missbraucht“, sagt Caroline Darian Anfang Januar 2025 in einem Interview mit dem britischen Sender BBC. Der Anlass ist das Erscheinen ihres Buchs „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“ auf dem internationalen Markt. In Form eines Tagebuchs mit Erinnerungen und inneren Dialogen beschreibt sie, was in einer Familie passiert, wenn sich der Vater plötzlich als schwerer Sexualstraftäter herausstellt und die Mutter als sein ahnungsloses Opfer.
„Ich heiße Caroline Darian und erlebe gerade die letzten Sekunden eines normalen Lebens.“ Knapp vier Jahre zuvor, am 2. November 2020 um 20 Uhr 25 erfährt Darian von ihrer Mutter, was ihrem Vater zur Last gelegt wird: rund 200 Vergewaltigungen, zwischen September 2013 und Oktober 2020, verübt an seiner bewusstlosen Ehefrau Gisèle, bei denen er die Kamera mitlaufen ließ. Auf den ersten Schock folgt eine so tiefe Verunsicherung, dass Darian die emotionalen Grundlagen ihrer Existenz in Zweifel zieht. Vertrauen, Schutz und Liebe lösen sich schlagartig in Luft auf.
Als ein paar Wochen später auch von ihr Fotos auftauchen, die der Vater heimlich gemacht hat - nachts, schlafend in ihrem Bett in fremder Unterwäsche -, richten sich ihre Gefühle sogar gegen sie selbst. „Ich bin am Boden zerstört und fühle mich schmutzig. Ich schäme mich, diesen Vater geliebt zu haben, den ich zu kennen glaubte.“
Um eben diese Scham geht es Darian in den 224 Seiten ihres Buchs. Die Scham, Tochter eines Perversen zu sein. Die Scham, das Leid, das er der Mutter über Jahre angetan hat, nicht erkannt zu haben. Die Scham, selbst Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden zu sein, bei dem sie vermutlich auch von ihrem Vater betäubt wurde.
Schon im Vorwort erklären die Übersetzerinnen der deutschen Ausgabe, Michaela Meßner und Grit Weihrauch, den in Frankreich üblichen Begriff „Soumission chimique“. Die, zu Deutsch, „chemische Unterwerfung“ geht weiter als das Verabreichen von K.-o.-Tropfen, denn es zählen auch handelsübliche Schlaf- und Beruhigungstabletten dazu, die seltener als Tatmittel erkannt werden. Deswegen blieb auch Giséle Pelicots jahrelanger Missbrauch trotz zahlreicher Arztbesuche unentdeckt.
„Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“ ist zweierlei: Ein traurig zorniger Blick zurück auf einen einstmals liebenden Vater und fürsorglicher Großvater für Darians Sohn Tom, den es womöglich nie gegeben hat. Und die detaillierte Bestandsaufnahme des psychischen und emotionalen Trümmerfelds, das sexueller Missbrauch nicht nur bei den Opfern selbst, sondern auch in deren gesamten Umfeld hinterlässt. Mit dem schriftlichen Festhalten ihrer Gefühle und Erfahrungen versucht Darian das, was auch schon ihre Mutter durch das öffentlich machen des Prozesses gegen ihren Peiniger Ende 2024 getan hat. Sie schreibt: „Ich klammere mich an die Vorstellung, dass durch diesen Bericht die Scham die Seite wechseln wird.“
Caroline Darian
Ich werde dich nie wieder Papa nennen
Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 22,00 €
Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner und Grit Weihrauch
Edda Bauer