Literatur

11.12. | Buch der Woche

Aus dem Wald hinausfinden

Margaret Atwood und Caspar Shaller

Prophetin wider Willen

Im Alter von 80 Jahren ist Margaret Atwood zur Galionsfigur einer dystopischen Zukunft geworden. Ihr Herz schlägt weiterhin in einem zuversichtlich menschlichen Takt.

Für Science-Fiction-Autoren ist es ein bitterer Triumph, wenn sie zu Lebzeiten erfahren müssen, wie die Realität ihre kühnsten und kränksten Fantasien einholt. In Margaret Atwoods Fall war das schon mehrmals so, denn die kanadische Erfolgsautorin arbeitete sich schon früh an Themen ab, die aktuell im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein explodieren. In ausgezeichneten Romanen wie „Der blinde Mörder“, „Der Report der Magd“ und der so genannten MaddAddam-Trilogie dachte die Autorin feministische Fragen mit Soft Science Fiction zusammen – ein postmodernes Atwoodland, das viele aktuelle Debatten auf gespenstische Weise vorwegnahm. Selbst Literaturabstinenzlern sind ihre Welten ein Begriff, seit „The Handmaid’s Tale“ auch als TV-Serie erschienen ist und zeigt, wie sehr sich die frauenfeindliche und reaktionäre Politik der Trump-Ära den verstörenden Visionen der Buchvorlage bereits genähert hat. Dass der Berg ausgerechnet in dieser Gestalt zur Prophetin kommt, dürfte niemanden mehr als Atwood erschüttern, doch bei aller Hellsichtigkeit bleibt die Booker-Preisträgerin in „Aus dem Wald hinausfinden“ vorsichtig optimistisch. Zwei Tage lang interviewte der Zeit-Journalist Caspar Shaller die Schriftstellerin für diesen handlichen Band, es ist ein kompaktes und kurzweiliges Gespräch geworden, das einem von Stichworten flankierten Monolog gleichkommt. Atwood äußert sich in geselliger und beizeiten auch salopper Sprache über eine Vielzahl von Themen, die in ihrem Gesamtwerk regelmäßig gestreift werden und die Diskussion darüber direkt zu ihren Lesern tragen. Wer hier einen eher gesetzten Gestus erwartet, wird angenehm überrascht von der augenzwinkernden und schlauen Art der Autorin. Nicht, dass das einer ausgeprägten Meinungsstärke ins Gehege käme. Im Gegenteil. Atwood formuliert Haltungen, die den literarischen Konsens selbstbewusst durchmessen. Zwischen weiblicher und männlicher Schreibe erkennt die Starautorin beispielsweise keinen relevanten Unterschied, der kritischen Analyse à la Derrida erteilt sie im Vorbeigehen eine Absage. Über das Leben und das Schreiben referiert sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie als Kanadierin, als Agnostikerin, als Mitglied der „Silent Generation“ und als selbsternannte „Hexe“ und Außerirdische ehrenhalber. Auch wenn Margaret Atwood bereits den Ruf als angenehme und neugierige Gesprächspartnerin genießt, ist die verblüffendste Erkenntnis über „Aus dem Wald hinausfinden“, wie viel Witz und Lebensfreude aus ihren Bemerkungen sprechen. Gerade noch geißelt sie die neue Tugendhaftigkeit eines erstarkenden Puritanismus, die Fake News und die Gefahr von Theokratien, kurz darauf gibt sie Survival-Tipps für Outdoor-Enthusiasten. Auch beim drohenden Klimawandel – ein Evergreen in vielen ihrer Romane – zeigt sich Atwood engagiert und informiert. Offenbar verfolgt sie aktuell mehrere Umwelttechnologien, von denen sich die Forschung demnächst Durchbrüche verspricht, um die Katastrophe doch noch abzuwenden. Es wäre eine ganz neue Art von Margaret-Atwood-Roman.

Kampa Verlag, 160 Seiten

Markus Hockenbrink