Kino

11.11. | Kinotipp der Woche

Lieber Thomas

Wild Bunch · 11. November

Lieber Thomas
Wild Bunch, 11. November

Treffsicher Brasch!

20 Jahre nach dem Tod von Thomas Brasch kommt nun der filmische Näherungsversuch. Allein der Titel „Lieber Thomas“ bleibt dabei ein frommer Wunsch.

Niemand, aber auch wirklich gar niemand würde Schriftsteller Thomas Brasch nach Ansicht seines in 150 Spielminuten zusammengefassten Lebens als „lieb“ bezeichnen. Sexy, ja. Nervig, auch. Genial, wahrscheinlich. Eher nicht widerwärtig, aber auf jeden Fall widerständig, und zwar immer und überall – hüben, drüben und auch Übersee. Angesichts dessen klingt der Titel „Lieber Thomas“ so ungelenk wie der kindliche Briefauftakt: „Wie geht es dir? Mir geht es gut.“ Wie ungerecht dem Drehbuch gegenüber, denn Thomas Wendrichs („Ich und Kaminski“, „NSU – Heute ist nicht alle Tage“) Drehbuch hangelt sich an Braschs berühmtem Siebenzeiler aus dem Zyklus „Papiertiger“ (1977) entlang und müsste konsequenterweise dessen letzte Zeile als Titel tragen: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“. Damit hat Brasch nämlich selbst schon alles treffsicher auf den Punkt gebracht: sich, sein Leben, sein Hadern, seine Sehnsucht, seine schonungslose Ehrlichkeit und seine niemals enden wollende Suche. Mehr als ein Biopic ist „Lieber Thomas“ eine szenische Gedichtinterpretation geworden. Zeilen wie „wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber“ und „die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber“ setzt Regisseur Andreas Kleinert („Mein Vater“, „Freischwimmer“) in den Kontext der Zeit, in denen sie entstanden. Das funktioniert vor allem dann gut, wenn er originale Pionier-Erbauungsdokus gegen die Realität des jungen NVA-Kadetten Thomas schneidet, der ja nicht zuletzt der Erstgeborene des SED-Funktionärs Horst Brasch war. Es erschließt die Stimmung der Zeit, wenn Filmstudent Brasch in Babelsberg die lässige Frechheit eines Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“ an den Tag legt, und erst recht, wenn Filmaufnahmen von Panzern mitten in Prag in Ost-Berlin eine Flugblatt-Aktion nach sich ziehen – was für Brasch schwerwiegende Konsequenzen hat. Der Ost-Teil von „Lieber Thomas“ strotzt vor Dynamik und Kreativität. Zum West-Teil, nach Braschs Ausreise 1976, fällt Kleinert leider nicht halb so viel ein. Übrig bleibt dennoch genug: der Defa-Stil im sanften Schwarz/Weiß des Orwo-Filmmaterials, die kokett berlinernde Jella Haase alias Katarina, Jörg Schüttauf als irritierend sympathischer Kader und Albrecht Schuch. Wie so oft in seinen Rollen – von „Vermessung der Welt“ bis „Berlin Alexanderplatz“ – bringt Schuch auch für den vermeintlich lieben Thomas diese gewisse Dosis Wahnsinn mit, die es braucht, um entweder vor ihm oder um ihn Angst zu haben.

FAZIT:
Wer sich auf die Suche nach dem Schriftsteller Thomas Brasch macht, kommt an „Lieber Thomas“ nicht vorbei. Mehr szenische Gedichtinterpretation denn Biopic setzt Regisseur Andreas Kleinert Brasch in den Kontext seiner Zeit. Dabei lässt er die DDR der 60er und 70er Jahre auferstehen und die BRD der 80er und 90er. All das in feinstem Defa-Schwarzweiß und mit einer hochgradig engagierten Besetzung, die neben Jella Haase, Jörg Schüttauf, Anja Schneider und Joel Basman von Albrecht Schuch angeführt wird.

Foto: Wild Bunch

Edda Bauer