Literatur

11.11. | Buch der Woche

Brit Bennett • Die verschwindende Hälfte

Rowohlt

BRIT BENNETT
Die verschwindende Hälfte

Rowohlt • 480 Seiten

Die Farbe von Freiheit

Rassismus ist im Jahre 2020 sichtbarer geworden und wirkt bedrohlich zäh. Brit Bennetts neuer Roman erzählt davon, wie er auch von seinen Opfern verinnerlicht wird.

Desiree und Stella sind 16, als sie aus ihrem winzigen Südstaatennest in Richtung New Orleans flüchten, um dort ein selbstbestimmtes Leben zu beginnen. Es ist das Jahr 1968, und die beiden Zwillingsschwestern haben genau wie alle anderen Einwohner von Mallard in Louisiana schon furchtbare Rassismuserfahrungen gemacht. Perfiderweise krempelt das die Köpfe der Opfer an diesem Ort gleich mehrfach um, denn für Schwarze sind die Dorfbewohner allesamt ausgesprochen hellhäutig. So hellhäutig, dass Ehen mit dunkelhäutigeren Afro-Amerikanern verpönt sind, auch wenn das die fehlende Akzeptanz bei den Weißen niemals beeinflussen wird. In New Orleans, wo sie keiner kennt, bietet sich den Schwestern die Chance, nicht nur ihre Vergangenheit abzulegen, sondern gewissermaßen auch die Hautfarbe zu wechseln. Das sogenannte »Passing« – also das Durchgehen als Weiße – bietet schließlich das Versprechen von Glück und Erfolg, das in den USA (und anderswo) nicht für jeden gilt. Gleichzeitig sind die Gefahren schwer abzuschätzen. Fliegt die Täuschung auf, steht ein ganzer Lebenslauf auf dem Spiel, bleibt man bei seiner Verstellung, zersplittert langfristig womöglich die Seele.

Und noch ein anderer Preis wird aufgerufen: Wer die Hautfarbe wechselt, muss sich von seiner persönlichen Geschichte lossagen, von seiner Familie, und von denjenigen Bindungen, die eigentlich am natürlichsten sind. Brit Bennett findet in ihrem zweiten Roman prägnante und schmerzhafte Sätze, um einen durchdringenden Blick auf das wandelbare Wesen von Identität zu werfen. » Vielleicht wurde man irgendwann einfach weiß, wenn man nur lange genug so tat «, lautet einer davon. Es ist ein kindlicher Gedanke, der den Rassismus aber einfach und zutreffend als eine Idee beschreibt, die Zugehörigkeit nach homogenen Gruppen zuteilt, um sie in Rangfolgen zu ordnen. In dem Moment, wo die beiden Schwestern vermeintlich frei über diese Zugehörigkeit entscheiden können, wenden sich die Konflikte der Gesellschaft nach innen und werden auf psychischem Terrain ausgetragen. Diese Thematik ist hierzulande spätestens seit Douglas Sirks Filmklassiker »Solange es Menschen gibt« von 1959 bekannt, und das dort angetroffene Melodrama wählt auch Bennett als Format ihrer Erzählung. Sie begleitet Desiree, Stella und später ihre beiden Töchter durch knapp zwei Jahrzehnte US-Geschichte, in denen sich die Gesellschaft langsam wandelt, ohne dass der Kampf gegen rassistische Muster und Strukturen entscheidend vorankommt. Damit bekommt das Buch auch eine zeitgenössische Brisanz, die sich aber nicht etwa in einem radikalen Stil niederschlägt.

»Die verschwundene Hälfte« hat vielmehr den emotional beschaulichen Tonfall eines Unterhaltungsromans, in dem schicksalhafte Zufälle und überraschende Wiedersehen viel Arbeit zu erledigen haben. An anderer Stelle gelingt dem Roman dagegen das Wesentliche: Seine Leser und Leserinnen dazu zu bringen, sich mit einer ihnen unvertrauten Realität zu beschäftigen und für knapp 500 Seiten in der Haut eines anderen zu stecken. Ganz unabhängig von deren Farbe.

Markus Hockenbrink