Literatur

11.08. | Buch der Woche

John von Düffel • Die Wütenden und die Schuldigen

DuMont

Grenzgänge

John von Düffel hat einen flirrenden Familienroman über die Zeit der Pandemie geschrieben. Im Gespräch dreht sich alles um Leben, Tod, Wut und einen traumhaften Kater.

War es die Wut oder die Schuld, die Sie angetrieben hat, diesen Roman zu schreiben?
Im Zuge der Pandemie gab es für mich viele enttäuschende und wütende Momente. Hinzu kommen bittere Momente, in denen sich das Schuldgefühl des Überlebens einstellt. Wie der Rabbi in meinem Roman sagt: Es gibt eine Schuld des Überlebens, auch wenn wir ja „nichts dafür können“. Diese merkwürdigen Augenblickserfahrungen wollte ich in einen Kontext bringen. Dazu braucht es eine größere Erzählung, die Anknüpfung an die großen Fragen – und die Sinnfrage dieser Krise, die wir erleben.

In den Lockdown-Phasen wirkten gesellschaftliche und soziale Missstände wie unter einem Brennglas fokussiert. Hat die Pandemie uns wachgerüttelt?
Ich sehe es als eine Aufgabe der Literatur, eine Lesart für das veränderte Leben anzubieten – eine Folie von Geschichten, Figuren und Sätzen auszurollen, die mal wie ein Spiegel ist und mal wie etwas, zu dem man sich selbst ins Verhältnis setzt. Erst durch diese Art der Reflexion entsteht die dringend nötige Erfahrung. Wachheit entsteht durch Bewusstmachung. In der Anfangszeit der Pandemie, in der meine Geschichte spielt, konnten wir viel über uns und die Veränderung unseres Lebens erkennen.

„Die Wütenden und die Schuldigen“ dreht sich auch um Menschen, die verschwunden scheinen…
Die Familienmitglieder im Roman sind durch die Kontaktbeschränkungen unvermittelt voneinander getrennt. Sie werden durch die Distanz nicht nur auf die aktuellen Konflikte der Gegenwart verwiesen, sondern auch auf die Lücken und Leerstellen der Vergangenheit: auf die Verschwundenen, von denen keiner mehr spricht. Der Roman macht hoffentlich erlebbar, dass es über den gelebten Alltag hinaus einen Familienzusammenhang gibt, der tiefer liegt und weiter geht – und der sich deutlicher zeigt, wenn der Alltag plötzlich aussetzt. Ich bin überzeugt davon, dass sich in den meisten Familien nicht nur der Schmerz, der Verlust und die traumatischen Erlebnisse fortschreiben, sondern auch der Zusammenhalt, der es ermöglicht, das alles zu überstehen.

Dann ist der Kater im Roman ein vermittelnder Grenzgänger?
Der Kater, der nach dem Gott der Träume „Morpheus“ genannt wird, läuft einem Pfarrer a. D. zu, der eigentlich im Haustier-Zölibat lebt und der in dem Kater eine Art Todesboten sieht, schließlich hat der Pfarrer nicht mehr lange zu leben. Seine Feindseligkeit wandelt sich jedoch, er offenbart dem Kater Gefühle, die er sich gegenüber Menschen längst versagt hat.?

Die Tiere sind auch während der Pandemie nicht das Problem.
Die Pandemie ist aus meiner Sicht ein Symptom für unser aus dem Lot geratenes Verhältnis zur Natur. Die Schuld, dass wir die mörderischste Gattung des Planeten sind, die so viele andere auf dem Gewissen hat und sich über alle natürlichen Grenzen hinwegsetzt, bleibt. Es ist eine folgenschwere Entscheidung, nicht nur wütend darüber zu sein, sondern auch sein Leben entsprechend anzupassen und für Veränderung zu sorgen. Insofern ist zu befürchten, dass sich die meisten lieber betäuben und das Problem verdrängen, als es anzugehen.

John von Düffel
Die Wütenden und die Schuldigen

DuMont, 320 Seiten

Romanautor, Dramaturg und Essayist John von Düffel hält der Menschheit den Spiegel vor. Mittels Lupe und szenischer Schreibe schaut er auf die Lockdown-Welt und drängende Fragen. Die einzelnen, dicht erzählten Geschichten lassen allerdings auch welche offen. Philosophisch. Poetisch. Provozierend.

Annette Behr